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„Daz inner bekennen ist... in unserr sêle wesen. . . gewurzelet und ist
etwaz lebens der sêle. Wir sagen, daz daz verstân sî etwaz lebendes der sêle,
daz ist vernünftigez leben.“
Und das schätzt Eckehart so hoch ein, daß er hinzufügt:
„und in dem lebenne wirt der mensche geborn gotes sun.“
1
Da Eckehart demnach das Leben zuletzt von Erkenntnis ableitet,
dürfen wir uns nicht wundern, einen ü b e r a u s h o h e n B e -
g r i f f d e s L e b e n s bei ihm zu finden.
„Waz ist leben? Gotes wesen ist min leben. Ist min leben gotes wesen, sô
muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit, noch minner noch
mêr.“
2
Der Hochgesang, den Eckehart, der Lebemeister, auf das I eben
anstimmt, preist die unvertilgliche, göttliche Wurzel des Lebens;
Ez enist kein dinc sô liep noch sô begirlich als leben under allen dingen. So
enist kein leben sô boese noch so swaerlich, ein mensche enwelle dennoch leben.
Ein geschrift diu sprichet: ie daz dinc dem tôde naeher ist, ie pînlîcher ez
ist. Nochdenne swie boese daz leben ist, sô wil ez leben. War umbe izzest dû?
War umbe slaefest dû? Umbe daz dû lebest. War umbe begerst dû guote oder
êren? Daz weist du harte wol. Mêr: war umbe lebest dû? Umbe leben, und
enweist dennoch niht, war umbe dû lebest. So begirlich ist daz leben in im
selber, daz man ez umbe sich selber begert. Die in der helle sint in êwiger pîne,
die enwölten niht ir leben Verliesen, noch vlende noch sêlen, wan ir leben ist sô edel, daz ez
sunder allez mitel vliuzet von gote in die sêle. Dar umbe wan
ez von g o t e a l s o v l i u z e t s u n d e r m i t e l , dar umbe wellent sie
leben. Waz ist leben? Gotes wesen ist mîn leben .. .“
3
1
Pf. 39, 15: Das innere Erkennen ist im Wesen der Seele gewurzelt und ist
etwas vom Leben der Seele. Wenn wir sagen, dieses Erkennen sei etwas vom
Leben der Seele, so meint das: vernünftiges Leben (geistiges Leben),
und in diesem Leben wird der Mensch als Gottes Sohn geboren.
2
Q I 106, 1: Was ist Leben? Gottes Sein ist mein Leben. Ist nun mein Le-
ben Gottes Sein, so muß Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine
Wesenheit, nicht mehr und nicht weniger.
3
Q I 105, 4: Nichts ist so lieb und so begehrenswert unter allen Dingen
wie das Leben. Und wiederum ist kein Leben so schlimm noch so beschwerlich,
daß der Mensch nicht dennoch leben wolle. Eine Schrift sagt: Je näher etwas
dem Tode ist, umso peinvoller ist es. Gleichviel, wie schlimm das Leben auch ist,
es will doch leben. Warum issest du? Warum schläfst du? — Damit du lebest.
Warum begehrst du Gut und Ehre? — Das weißt du sehr wohl. Aber: Warum
lebst du? — Um des Lebens willen, und du weißt dennoch nicht, warum du lebst.
So begehrenswert ist das Leben in sich selbst, daß man es um seiner selbst willen
begehrt. Die in der Hölle in ewiger Pein schmachten, selbst die wollten ihr Leben
nicht verlieren, weder die Teufel noch die Seelen, denn ihr Leben ist so edel,
daß es unvermittelt von Gott in die Seele fließt. Weil es so unmittelbar von
Gott fließt, darum wollen sie leben.