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Sicherheit und Ordnung (denn ohne diese würde ja aus so vielen
Freiheiten der Krieg aller gegen alle werden). „Laissez faire, laissez passer,
le monde va de lui-meme“, das war der Wahlspruch der Naturrechtler auf
wirtschaftlichem wie staatlichem Gebiete. —
(2) Positiv gesehen, erscheint umgekehrt die Freiheit als die einzige
wesenhafte Lebensbedingung des Einzelnen, denn das Höchstmaß
geistiger Lebensbedingungen bedeutet ja: Selbstgenügsamkeit, das heißt
Freiheit. — Aus dem Begriffe der Freiheit im naturrechtlichen Sinne
ergibt sich der Begriff der „Volkssouveränität“.
II. Das Mindestmaß der Staatsaufgaben
Dem Grundsatze der Freiheit der Einzelnen entspricht umgekehrt die
möglichste Nicht-Einmischung des Staates. Möglichst viel Freiheit heißt
auf der andern Seite notwendig möglichst wenig staatliche Regelung.
Positive, dem Einzelnen geistig helfende Tätigkeit kann der Staat nicht
entwickeln. Er ist wesentlich Schutzverein, sozusagen eine allumfassende
Wach- und Schließgesellschaft, nicht aber Wohlfahrtsanstalt, er ist
„Sicherheitsstaat“, nicht „Kulturstaat“. Vorzüglich hat dies Wilhelm von
Humboldt ausgedrückt, indem er sagt: „Der Staat enthalte sich aller
Sorgfalt für den Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als
zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde
nötig ist; zu keinem andern Endzweck beschränke er ihre Freiheit.“
1
„Das
höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir
dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich
entwickelte.“
2
Vorher schon hatte Schlözer die Steuer, wenn sie ein Staats
o p f e r sein soll, als / „Banditenforderung“ bezeichnet
3
. Der Staat als
große Versicherungskasse auf Ordnung und Recht habe nicht mehr als ein
Entgelt für seine Leistungen zu fordern (Steuer als Kauf der Leistungen des
Staates). — Treffend hat Ferdinand Lassalle diese Ansicht vom Staat als
„Nachtwächtertheorie“ verspottet.
1
Wilhelm von Humboldt: Ideen zum Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates
zu bestimmen, Leipzig 1929, S. 53 (= Reclams-Universalbiblio- thek, Bd 1991—1992).
2
Wilhelm von Humboldt: Ideen zum Versuch, ... S. 28.
3
August Ludwig von Schlözer: Allgemeines Staatsrecht, Göttingen 1793.