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gesunde Denkweise sein, dennoch ist sie im Grunde individualistisch,
denn sie denkt den Einzelnen so, als ob er schon in der Gesellschaft als
geistig Fertiges, auf sich Beruhendes darinnen wäre, der nur auf die äußere
Hilfeleistung der andern angewiesen ist. Die Pflichten gegen das Ganze
werden nur als Dankespflichten aufgefaßt. Das sind sie aber nicht. Die
Gesellschaft steht auf stärkeren Grundlagen.
Daß der Mensch im Grunde ohne die andern Menschen äußerlich nicht leben kann, darf
man also dem Individualismus nicht ankreiden. Man kann diese Tatsache ins Auge fassen und
dennoch Individualist sein, wenn man nämlich dem Menschen geistig moralische
Selbständigkeit zuschreibt. Man k a n n d a n n g e r a d e d e s h a l b n o c h
I n d i v i d u a l i s t s e i n , w e i l m a n d i e a r t e i g e n e W i r k u n g d e r
G e s e l l s c h a f t a u f d i e W e l t d e s H a n d e l n s b e s c h r ä n k t ; hier allein
gäbe es dann „Gesellschaft“ — aber die Burgfreiheit der geistig-moralischen Persönlichkeit
würde damit nicht angetastet. Diese ist a u t a r k und wünscht eben gerade, daß man sie in
Ruhe lassen und die gesellschaftlichen Angelegenheiten im Bereiche des Handelns suchen
und fördern solle. Reinste, äußerste Vertragstheorie!
Auf diesem Boden also würde jeder Universalismus aus dem Felde geschlagen werden.
Das einzige, was diesem übrigbleibt, ist: die Gesellschaft in der Sphäre der Geistigkeit zu
suchen. Der e c h t e U n i v e r s a l i s m u s g e h t d a h e r v o n d e r
G e g e n s e i t i g k e i t
d e s
H a n d e l n s
ü b e r a l l
a u f
d i e
G e g e n s e i t i g k e i t d e s G e i s t e s z u r ü c k .
Worin das entscheidende Merkmal und die Rechtfertigung des
Universalismus liegt, ist die ontologische (seinsmäßige) Gegenseitigkeit, ist
die Gesellschaftlichkeit des menschlichen Geistes. Daß die G e b u r t
d e s
G e i s t e s
w i e
s e i n e
i m m e r w ä h r e n d e
N e u b i l d u n g e i n g e s e l l s c h a f t l i c h e r V o r g a n g i s t,
daß sie nur in Gezweiung erfolgt, daß sie sich nur innerhalb der
schöpferischen Gegenseitigkeit der Einzelnen (die von aller mechanischen
Hilfeleistung in Erziehung, Unterricht und Leben streng zu trennen ist)
vollzieht — das ist der Hauptsatz des Universalismus. Universalistisch ist
jede Auffassung der Gesellschaft, welche im geistigen Miteinander der
Einzelnen ein / schöpferisches Prinzip erblickt und diesem, indem es die
Einzelnen zum Gliede eines über sie hinausgehenden Ganzen macht, den
logischen Vorrang (die Priorität) vor den Gliedern zuschreibt.