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dichtet, so ist wohl die Voraussetzung, daß seine eigenen Geisteskräfte in
Gemeinschaft geweckt und gebildet wurden, es liegt aber weiter darin:
(a)
daß die hervorbringende dichterische Tätigkeit, durch die der
„Faust“ entsteht, wieder in den Menschen, denen der „Faust“ geschenkt
wird, Geistiges „erweckt“;
(b)
daß dieses Erwecktwerden durch den „Faust“ (das heißt lediglich
sein Aufnehmen durch den Leser) dennoch nicht rein passiv ist — wie
schon die Sprache lehrt, indem sie von Teilnahme „fassen“ spricht, oder
indem wir im Deutschen das scheinbar rein passive „rezipieren“ als
a u f - n e h m e n bezeichnen. Es folgt: Die Erweckten müssen das in
ihnen Erweckte auch selbst erzeugen.
Im Verhältnis des zum Aufnehmen Veranlassenden (hier des Dichters)
und des Aufnehmenden (des Lesers, Zuschauers) liegt nun ein weiteres
wichtiges Bestimmungsstück: der Schaffende gibt das geistige Vorbild; der
Aufnehmende oder Nachschaffende, der also als nach-„schaffend“
gleichfalls nicht ganz passiv sein kann, erzeugt das Nachbild.
G e b e n d e r u n d N e h m e n d e r v e r h a l t e n s i c h b e i d e
t ä t i g u n d w i e e i n V o r b i l d u n d N a c h b i l d .
Nun kann aber nicht überall ein Nachbild und auch nicht immer das
gleiche entstehen. Im Verhältnis Vorbild — Nachbild liegt noch eine
andere Seite: Um ein Nachbild zu schaffen, muß eine schlummernde
Möglichkeit oder Potenz im Gefreundeten vorhanden sein. (Potenz im
Sinne von „passiver Möglichkeit“, nicht von aktiver Möglichkeit, von
Vermögen.) Das Vorbild kann ein Nachbild nur hervorrufen, wenn es ein
Gleiches von seiner Gebundenheit im Geiste des Gefreundeten „befreit“.
Hiermit erhält das Verhältnis Vorbild / — Nachbild die Bedeutung von:
Wirklichwerden
einer
Möglichkeit
oder,
wie
die
aristotelisch-scholastische Redeweise sagt, Aktualisierung einer Potenz.
Das Vorbild ist das Aktualisierende, das Nachbild das aus der Latenz
Aktualisierte. Dieses Verhältnis kann man auch ein solches von Form und
Materie bezeichnen. (Materie gleich Aufnehmerin.)
An dem Verhältnis von Form und Materie ist wieder das Unrecht der Umweltlehre
ersichtlich. Es ist nicht so, daß der Einzelne eine „abhängige Variable“ oder „mathematische
Funktion“ der Umwelt wäre, sondern die wirkliche P o t e n z in ihm ist nötig, um das zu
werden, was er wirklich wird oder