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l e h r e , daß sie allein genügt, um alle Gesellschaftswissenschaft von der ursächlichen
Naturwissenschaft verfahrenmäßig vollkommen abzuscheiden
1
.
Bei P l a t o n u n d A r i s t o t e l e s kann man diese Einsicht mittelbar insofern
finden, als sie dem Satze „Das Ganze ist früher als der Teil“ entspricht, der die rein gliedhafte
Befassung des Teiles unter das Ganze logisch fordert. Geradehin ausgesprochen fand ich sie
weder bei Hegel noch Schelling, dagegen, wenn ich ihn recht verstehe, nur bei B a a d e r .
I n d e n v o n F r a n z H o f f m a n n zusammengestellten „Grundzügen der
Sozietätsphilosophie“ Baaders heißt es auf der ersten Seite
2
: „Das Band der Liebe und
Vereinung, welches mehrere Gemüter als Glieder eines und desselben Gemeinwesens frei,
weil von innen heraus, verbindet, kann nur als Wirksamkeit eines und desselben allen diesen
Gemütern zugleich inwohnenden zentralen Wesens begriffen werden, dem sie von Rechts
wegen sich unterworfen haben.“
/
Auch die Idee der „communio sanctorum“, an die Baader vielleicht gedacht hat, besitzt
den konstruktiven Begriff der Ganzheit durchaus im Sinne des obigen Satzes. Denn die
Heiligen hängen in ihr nicht unmittelbar zusammen, sondern erlangen ihre
Zusammengehörigkeit erst durch das gemeinsame Anschauen Gottes.
Von dem gewonnenen Begriffe der Ganzheit aus haben wir nun noch
die entsprechende Formel für die Gliederschöpfung festzulegen, welche
von der Ganzheit aus erfolgt. Vom Einzelnen aus gesehen lautete unsere
Formel: Selbstsein durch Sein im andern.
Die vom Standpunkte der Ganzheit ausgehende Formel hat nun die
Grundtatsache zur Voraussetzung, daß ein Ganzes als solches nicht ist,
ebensowenig wie der Einzelne als solcher. Nirgends können wir
handgreiflich das Ganze selbst (als solches an sich) beobachten,
handgreiflich sind stets nur bestimmte Glieder da, z. B. ein Arm, eine
Hand, der Körper als solcher nicht. Wenn nun das Ganze als solches nicht
existiert, so folgt, daß die Formel: „Selbstsein durch Sein im andern“ von
der Seite des Ganzen her gesehen heißt: Das G a n z e i s t d u r c h
S e i n i n d e n G l i e d e r n , Sein des Ganzen ist allein möglich durch
Sein in den Gliedern; oder in anderen Worten: Das Ganze ist durch
Ausgliederung. Umgekehrt liegt im Befaßtsein durch eine Ganzheit allein
die Wirklichkeit des Gliedes.
1
Vgl. darüber unten unter „Verfahrenlehre“, S. 633 ff., und mein Buch: Kategorienlehre,
Jena 1924, S. 270 [2. Aufl., Jena 1939, S. 282], „Unberührbarkeit der Glieder“.
2
Franz von Baader: Grundzüge der Sozietätsphilosophie, Ideen über Recht, Staat,
Gesellschaft und Kirche, zusammengestellt von Franz Hoffmann, 2. Aufl., Würzburg 1865.