Previous Page  199 / 749 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 199 / 749 Next Page
Page Background

[160/161]

199

Nachprüfendem, die alle aufrichtig das Schöne und die Wahrheit

suchen, findet s o l c h e Freiheit als selbstauferlegte Beschränkung

der eigenen Ansprüche, als Achtung vor den Fehlern und Irrtümern

auch des Gegners statt und stiftet so in wahrer Gegenseitigkeit,

welche allseits die eigenen Kräfte steigert, indem sie sie bindet, die

fruchtbarste und vollendete Gemeinschaft.

Fassen wir den Gegensatz von Individualismus und Universalis-

mus im Freiheitsbegriffe kurz zusammen. Ist das Gegenteil der

Freiheit, individualistisch gedacht, Zwang, so ist ihr Gegenteil im

universalistischen Sinne Verkümmerung (Unterdrückung), während

Zwang sehr wohl noch ein Bildungselement für das Individuum sein

kann. Ist ferner individualistisch die Freiheit innerhalb der Gren-

zen, welche Sicherheit und Ordnung ziehen, unbeschränkt und ihre

Betätigung der / Weltansicht des Einzelnen überlassen, so hat Frei-

heit, universalistisch erfaßt, von vornherein eine i n n e r e

G r e n z e w i e e i n i n n e r e s Z i e l an den konstitutiven Kräf-

ten, in deren gegenseitigem Werden das Individuum erst sich selbst

gebiert und findet. Die Vollendung dieses Wesens ist das Gute. Und

so folgt ein sittliches wie ein dynamisches, entwicklungsmäßiges

Element für diesen Freiheitsbegriff, der schließlich mit der höchsten

auch die allseitige, harmonische Ausbildung der Fähigkeiten des

Einzelnen in sich schließt.

A n m e r k u n g , I. Auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft an-

gewandt folgt, daß individualistische Freiheitsorganisation staatlich völlig un-

durchführbar ist. Individualistische Freiheit geht auf Autarkie, auf geistige Iso-

lierung, zerstört also die Grundlage aller geistigen Kultur. Nie war denn auch

in der Geschichte dauernd ein Gemeinwesen auf individualistische Grundlage

gestellt.

2. Geschichtliche Umorganisationen der Staaten sind demgemäß ganz anders

zu beurteilen als herkömmlich. Daß im Mittelalter nur die „Gruppe“ existiert

habe, die Renaissance dann die künstlerisch-philosophische Befreiung des Indi-

viduums brachte

1

, die Reformation die religiöse, die Französische Revolution die

staatliche — das ist durchaus schief gesehen. S o l c h e g r o ß e U m w ä l z u n -

g e n s i n d U m w ä l z u n g e n d e r B i l d u n g s i n h a l t e s e l b e r , es sind

nicht primär organisatorisch-staatliche Umwälzungen. A u s b i l d u n g d e r I n -

d i v i d u a l i t ä t w a r a u c h i m M i t t e l a l t e r u n d z u j e d e r Z e i t

möglich: aber sie erfolgte kraft der Geschlossenheit der damaligen Kultur inner-

halb der herrschenden Bildungsinhalte. Sind diese nun zerfahren und unbestimmt

wie heute, kann freilich jeder so ziemlich tun und lassen was er mag. (Darunter

1

Jacob Burckhart: Die Kultur der Renaissance in Italien, Ein Versuch, Basel

1860, S. 141 f.