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davon betrübt wird. Dessen steht die Abgeschiedenheit ledig und steht in sich

selbst und läßt sich nichts betrüben. Kurz gesagt, wenn ich alle Tugenden an-

sehe, so finde ich keine so ohne Mängel. . . wie Abgeschiedenheit.“

Meister Eckeharts Abgeschiedenheit steigt nicht von den Dingen

auf, wie jene Platons, sie hat überhaupt kein „Absehen auf die

Dinge“ mehr. Sie ist ledig aller Kreatur, ein „Leersein“ von den

Dingen. „Wahre Abgeschiedenheit bedeutet, daß der Geist so un-

beweglich steht in allem, was ihm widerfährt, es sei Liebes oder

Leides, Ehre oder Schande, wie ein breiter Berg unbeweglich steht

in einem kleinen Winde. Diese unbewegliche Abgeschiedenheit

macht am meisten den Menschen Gott ähnlich ... In ihr ist Gott

ewig gestanden und steht er noch. Selbst da er Himmel und Erde

schuf und alle Kreatur, das ging seine Abgeschiedenheit so wenig

an, als ob er nie etwas geschaffen hätte.“

1

Abgeschiedenheit ist die Geburt Gottes in der Seele, ist eine

Einung statt einer Gezweiung.

In jedem Menschen, sagt Meister Eckehart, sind eigentlich zwei

Menschen, der äußere oder Sinnenmensch, und die Innerlichkeit des

Menschen, das innere Leben. „Nun gibt es manche Menschen, die

verzehren die Kräfte der Seele vollständig in dem äußeren Men-

schen ... die wissen nichts von dem inneren Menschen ... D o c h

d e r ä u ß e r e M e n s c h m a g i n Ü b u n g s t e h e n , w ä h -

r e n d d o c h d e r i n n e r e M e n s c h d a v o n v ö l l i g f r e i

u n d u n b e w e g t b l e i b t . “ „ A u f d a s T ä t i g w e r d e n

v o n i n n e n h e r m u ß m a n d a s A u g e r i c h t e n.“

2

Der Mensch vermag aber im Schauen nicht auszuhalten.

„Nun möchte jemand sagen: Wer könnte denn im unverwandten Anblicken

des göttlichen Gegenstandes verharren? Dem erwidere ich: Niemand, der lebt,

hier in der Zeit. Es s o l l d i r a u c h n u r d a r u m g e s a g t s e i n , d a -

m i t d u w i s s e s t , w a s d a s H ö c h s t e i s t . . . Wenn aber dieses Schauen

dir entzogen wird, und du bist ein guter Mensch, so muß dir sein als sei dir

deine ewige Seligkeit genommen. Dann kehre bald dahin zurück . . . und behalte

dich allezeit fest in Obacht. Und dorten laß, soweit es irgendmöglich ist, dein

Ziel und deine Zuflucht sein.“

In der Unterscheidung des inneren und äußeren Menschen ist es

nun, wo Meister Eckehart den Ü b e r g a n g z u r S i t t e n l e h r e

voll- / zieht. Der Zustand der Abgeschiedenheit wird sowohl über

1

Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, Tractat IX, S. 484, Zeile 10 ff.

2

Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, Tractat IX, S. 489, Zeile 11 ff.