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sche Rasse hervorgebracht hat. Meister Eckehart entwickelt die Ab-
geschiedenheit im Gegensatz zur Liebe, zur Demut und Barmherzig-
keit.
„Viele Lehrer rühmen die Liebe als das Höchste .. . Ich aber stelle die Ab-
geschiedenheit noch über die Liebe. Einmal darum: Das Beste an der Liebe ist,
daß sie mich Gott zu lieben nötigt
1
. Nun ist das aber etwas weit Bedeut-
sameres, daß ich Gott zu mir her, als daß ich mich zu Gott hin nötige.. .
Daß nun Abgeschiedenheit Gott zu mir nötige, beweise ich damit: Jedes Wesen
ist gern an seiner natürlichen, ihm eigenen Stätte. Gottes natürliche, eigenste
Stätte ist Einheit und Lauterkeit; die aber beruhen auf Abgeschiedenheit. Darum
kann Gott nicht umhin, einem abgeschiedenen Herzen sich selber zu geben.
Der zweite Grund, warum ich Abgeschiedenheit über die Liebe stelle, ist der:
Bringt die Liebe mich dahin, um Gottes willen alles zu erdulden, so bringt die
Abgeschiedenheit mich dahin, nur noch für Gott empfänglich zu sein. Dies ist
aber das Höhere. Denn im Leiden hat der Mensch immer noch ein Absehen
auf die Kreatur, durch die er leidet; hingegen steht Abgeschiedenheit aller Krea-
turen ledig.“
2
Nicht nur die Liebe, auch die anderen höchsten Tugenden, wie
überhaupt alles Sittliche, stehen nach Meister Eckehart vor der Ab-
geschiedenheit zurück.
„... Auch Demut preisen die Meister vor vielen anderen Tugenden. Ich
aber stelle die Abgeschiedenheit über alle Demut. Und zwar deshalb: Demut
kann bestehen ohne Abgeschiedenheit, aber vollkommene Abgeschiedenheit nicht
ohne vollkommene Demut... Mein zweiter Grund ist der: Vollkommene
Demut beugt sich unter alle Kreaturen —, womit der Mensch aus sich heraus-
geht auf die Kreatur; Abgeschiedenheit aber bleibt in sich selber. Mag nun ein /
solches Herausgehen etwas noch so Vortreffliches sein, das Innenleben ist doch
immer noch etwas Höheres... Auch über die Barmherzigkeit stelle ich die Ab-
geschiedenheit. Barmherzigkeit ist ja auch nichts anderes, als daß der Mensch
aus sich herausgeht auf die Gebrechen seines Nebenmenschen, und sein Herz
Ausgabe von Franz Pfeiffer, anastatischer Neudruck der Ausgabe von 1857,
Göttingen 1906 [3. unveränderte Aufl., Göttingen 1914] (= Deutsche Mystiker
des 14. Jahrhunderts, Bd 2), bleibt noch immer unentbehrlich. — Eine treff-
liche kleine Auswahl und Einführung bietet Josef Bernhart: Meister Eckehart,
Kempten 1911 (= Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd 3; Sammlung
Kösel, Bd 77). — Uber Meister Eckehart, der kein Pantheist ist, vgl. Otto Karrer:
Meister Eckehart, Das System seiner religiösen Lehre und Lebensweisheit,
München 1926 (gegen Heinrich Suso Denifles unberechtigten Angriff im „Archiv
für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters“, Bd 2, Heft 1, Berlin 1886).
Otto Karrer und Hugo Piesch: Meister Eckeharts Rechtfertigungsschrift von
1326, Erfurt 1927.
1
Denn Liebe wird hier wie bei Platon als Teilhabung an den Dingen ange-
sehen, somit an der Welt und, weil diese panentheistisch gedacht wird, auch an
Gott. — Anmerkung des Verfassers.
2
Meister Eckehart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Göttingen 1906,
Tractat IX: Von Abgeschiedenheit, S. 484, Zeile 10 ff.