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kennen... Wahrlich, so groß dieser Weltraum ist, so groß ist dieser Raum
inwendig im Herzen; in ihm sind beide, der Himmel und die Erde, beschlossen;
beide, Feuer und Wind, beide, Sonne und Mond, der Blitz und die Sterne, und
was einer hienieden besitzt und was er nicht besitzt, das alles ist darin be-
schlossen . . „ A l l e die Seinigen, welche hier leben, und diejenigen, welche da-
hingeschieden sind, und was er sonst ersehnt und nicht erlangt, — alles das
findet er, wenn er hieher [ins eigene Herz] geht. Wahrlich, dieser Atman [das
/ eigene Selbst] ist im Herzen!... Das ist der Atman, das ist das Unsterbliche,
das ist das Furchtlose, das ist das Brahman!“
1
Die vollendete Abgeschiedenheit beginnt erst mit dem vollkom-
menen Wissen von Brahman. Sie geht über alle Gezweiung hinaus,
sie hebt über alle Vielheit hinaus. „Denn wo einem alles zum eige-
nen Selbste geworden ist, wie sollte er da irgendwen sehen... er-
kennen? Durch welchen er dieses alles erkennt, wie sollte er den er-
kennen, wie sollte er doch den Erkenner erkennen? Dieses für-
wahr“, so schließt die Belehrung, „reichet hin zur Unsterblichkeit“
2
.
Denn mit diesem Stande der reinsten Abgeschiedenheit, mit die-
sem höchsten Wissen von der Einheit der göttlichen Welt und des
eigenen Selbst ist zugleich die Erlösung erreicht. Sie ist von Ewig-
keit her verwirklicht
3
, denn diese Identität ist ja eine schon beste-
hende Tatsache; aber nur dadurch, daß man sie erkennt, daß man sie
weiß, eignet man sie sich an. Wer sich als Brahman weiß, der wird
zu Brahman, der ist erlöst. Und umgekehrt, „wer aus dieser Welt
dahinscheidet, ohne daß er die eigene Welt (die Welt des Atman)
geschaut hat, dem hilft sie, da sie unerkannt geblieben, nicht, wie
der Veda, wenn er nicht studiert, wie ein Werk, wenn es nicht getan
wird“
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, der muß von neuem in dem Strudel von Geburt und Tod
zurückkehren.
Als äußeres Sinnbild für diesen Seelenzustand innerer Erleuchtung
hat die vedische Lebensordnung folgende drei Stufen festgelegt:
Zuerst kommt die Zeit der Schülerschaft, dann die Zeit des Ehe-
lebens, dann endlich die Greisenperiode des Waldeinsiedlertums,
wo der Brahmane ferne vom Treiben der Welt in Abgeschiedenheit
sich der Betrachtung der höchsten Dinge widmet
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.
1
Chandogya-Upanishad, Ausgabe Paul Deussen, 8,1 und 8,3, S. 189 ff.
2
Brihadaranyaka-Upanishad, Ausgabe Paul Deussen, 4, 5, 15, S. 485.
3
Cankara: Kommentar zu den Sutras des Vedanta, aus dem Sanskrit über-
setzt von Paul Deussen, Sütram III, IV, besonders 52 und 1047.
4
Brihadaranyaka-Upanishad, Ausgabe Paul Deussen, 1, 4, 15, S. 397.
5
Vgl. die Sannyasa-Upanishad und die Kanthacruti-Upanishad, Ausgabe
Paul Deussen, S. 686 und 696.