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gemeint, ein Element in Kungfutses Sittenlehre, dem wir noch spä-
ter begegnen werden.
Ein anderer Spruch lautet: Si Ma Nin fragte nach dem Wesen der
Sittlichkeit. Der Meister sprach: „Der Sittliche ist langsam in sei-
nen / Worten.“ Er fragte: Langsam in seinen Worten sein, das
heißt Sittlichkeit?“ Der Meister antwortete: „Wer beim Handeln
die Schwierigkeiten sieht, kann der in seinen Worten anders als
langsam sein?“
1
Auch hier erscheint das Sittliche als eine freie
Tat, die aus einem inneren Gesetz fließt. Ein letzter Spruch möge
diese Reihe von Beispielen beschließen. Der Meister sprach: „Ist
denn die Sittlichkeit gar so fern? Sobald ich die Sittlichkeit wün-
sche, so ist diese Sittlichkeit da.“
2
Alle diese Sprüche scheinen eine Auffassung vom Wesen der Sitt-
lichkeit zu begründen, welche von der Willenssphäre des Einzelnen
ausgeht. Somit läge im Individuum und seinem (freien) Willen der
Schwerpunkt, und die Begründung der Moral wäre eigentlich eine
individualistische? Betrachtet man aber die Anwendung der Moral
in Staat und Gemeinschaft oder überhaupt die s o z i a l e t h i s c h e
Seite der Lehre, so zeigt sich ein ganz anderes Bild. Wir wollen wie-
der eine Reihe von Sprüchen darüber hören. Dschung Gung fragte
nach dem Wesen der Sittlichkeit. Der Meister sprach: „Trittst du zur
Tür hinaus, so sei wie beim Empfang eines geehrten Gastes. Ge-
brauchst du das Volk, so sei wie beim Darbringen eines großen
Opfers. Was du selbst nicht wünschest, das tue nicht den Menschen
an. So wird es in dem Lande keinen Groll gegen dich geben, so wird
es im Hause keinen Groll gegen dich geben.“
3
Der Spruch will sa-
gen: Sei andern Menschen gegenüber wie beim Empfang eines ge-
ehrten Gastes, voller Ehrfurcht. Ehrfurcht sei die Grundgesinnung.
Dem Volk gegenüber sei wie beim Darbringen eines Opfers, ehr-
fürchtig, fromm und scheu. Man ersieht jedenfalls, und weitere
Sprüche werden es belegen, wie das Sozialethische ein eigenes Prin-
zip für sich hat, ähnlich wie es Platon mit der „Gerechtigkeit“ ent-
wickelte. Das Sozialethische, das heißt die Sittlichkeit in der Ge-
meinschaft, das Moralische von Mensch zu Mensch, wird hier nicht
aus einem individuellen Prinzip abgeleitet, sondern aus einem Le-
1
Kungfutse: Gespräche, Buch XII, 3, S. 120.
2
Kungfutse: Gespräche, Buch VII, 29, S. 72.
3
Kungfutse: Gespräche, Buch XII, 2, S. 119.