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bensprinzip des G a n z e n der Gemeinschaft. Das ist bei Kungfutse

die Menschenliebe, die Nächstenliebe. Fan Tschi fragte nach dem

Wesen der Sittlichkeit. Der Meister sprach: „Menschenliebe . . .“

1

.

Dsi Gung fragte und sprach: „Gibt es ein Wort, nach dem man das

ganze Leben hindurch handeln kann?“ Der Meister sprach: „Die

Nächstenliebe. Was du selbst nicht wünschest, tu nicht an andern.“

2

Der Meister sprach: „Innerer Wert bleibt nicht verlassen; er fin-

det sicher Nachbarschaft“

3

— eine befruchtende, sich gegenseitig /

erhöhende Nachbarschaft. Ein solcher Begriff von Gemeinschaft

trägt das Prinzip des Guten selbständig, unabhängig vom Indivi-

duum in sich, denn er gründet sich auf die lebenspendende Kraft,

die in geistiger Berührung und Gemeinschaft wohnt. Meister Dseng

sprach: „Der Edle . .. fördert durch seine Freunde seine Sittlich-

keit.“

4

Hiermit möge die Betrachtung über den Begriff des Sittlichen bei Kungfutse

geschlossen sein. Ob das Sittliche individuell begründet sei und somit dem Moral-

begriffe Kantens ähnlich, als ein Imperativ apriorischer Natur, oder ob umgekehrt

von den sozialen Tugenden ausgehend (der Menschenliebe, Ehrfurcht) und das

Individuell-Sittliche aus der Gemeinschaft ableitend, das erscheint strittig; es steht

aber auch hier nicht zur Untersuchung. Der Herausgeber Richard Wilhelm hält

Kungfutses Begründung der Moral im Grunde für kantisch. Der Widerspruch

indessen, der mit dem Vorhandensein eines s e l b s t ä n d i g e n sozialethischen

Prinzips (der Menschenliebe) gegeben ist, wird von ihm nicht beachtet, auch er-

scheint mir zum Geiste der ganzen Lehre Kungfutses keinerlei individuelle Be-

gründung der Moral zu passen. Ein wichtiges Argument des Herausgebers, indem

er nämlich sich auf den Spruch stützt: „ d e r E d l e i s t k e i n G e r ä t“

5

,

scheint mir überdies nicht beweiskräftig, da hier und auch noch in einem anderen

Spruch

6

von den chinesischen Kommentatoren „Gerät“ im Sinne von Werkzeug,

Einseitigkeit, erklärt wird.

Gewiß ist, daß der Sittenbegriff bei Konfuzius am stärksten und

nachhaltigsten in bezug auf G e m e i n s c h a f t u n d S t a a t

entwickelt wird. Wie immer auch jenes Verhältnis zur kantischen

Auffassung, welches Kungfutses scheinbar individuelle Begründung

der Moral in der oben zuerst angeführten Gruppe von Sprüchen

nahelegen könnte, aufzulösen sei, hier liegen die Wurzeln seiner

1

Kungfutse: Gespräche, Buch XII, 22, S. 131.

2

Kungfutse: Gespräche, Buch XV, 23, S. 176.

3

Kungfutse: Gespräche, Buch IV, 25, S. 37.

4

Kungfutse: Gespräche, Buch XII, 24, S. 133.

5

Kungfutse: Gespräche, Buch II, 12, S. 12.

0

Kungfutse: Gespräche, Buch V, 3, S. 39.