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B. S t i l e n t w i c k l u n g . D i e G e s e l l s c h a f t a l s
A u f g a b e n s t e l l e r i n
Für die Kunst gelten dieselben Grundverhältnisse wie für die
Wissenschaft. Es ist auf der einen Seite dieselbe immanente E i g e n -
e n t w i c k l u n g der ästhetischen Probleme, des ästhetischen Ge-
fühls, der Kategorien, in innerlich notwendigem Fortschreiten aus
sich heraus. Wir nannten diese Erscheinung in der Wissenschaft
„Begriffsentfaltung“, in der Kunst entspricht ihr die hier weiter
nicht zu behandelnde S t i l e n t w i c k l u n g als eine innere Pro-
blementfaltung.
Auf der andern Seite ist es wieder die A u f g a b e n s t e l l u n g
von seiten aller andern Kultur- und Lebenskreise, der wir be-
gegnen. Man denke, wie die Bestellung von Bauten, Bildern, Dra-
men, Musikstücken usw. meist noch eine unmittelbarere Aufforde-
rung zum Schaffen in sich schließt, als dies sogar bei den Wissen-
schaften der Fall ist.
Die Architektur ist allerdings ganz an das wirkliche Bauen gebunden, obzwar
sich die Konzeption unabhängig davon vollzieht. (In einem Lande wie Frank-
reich, ohne Bevölkerungsvermehrung, wurde seit 50 Jahren vor dem Kriege fast
nicht gebaut.) Wie sehr sind doch z. B. die Kunstschöpfungen / Michelangelos
mit von den Aufträgen bestimmt, die er erhielt! Andererseits darf man versichert
sein, daß er immer derselbe geblieben und Gleiches für die Kunstentwicklung
auch unter andern Umständen geleistet hätte. — Die Barockbauten des alten Öster-
reich (man denke etwa an die Wachau) scheinen auch durch den glücklichen
Ausgang der Türkenkriege mitbedingt, welcher den Adel und den Staat in die
Lage versetzten, würdig zu bauen. — Heute hätte aber ein siegreiches Österreich
und Deutschland nur aus dem Geiste seines Verfalles heraus zu bauen vermocht,
wie übrigens die Wiener Gemeindemietkasernen grausam beweisen. Die „Auf-
gabenstellung“ zeigt sich gerade an diesem Beispiele als eine Ä u ß e r u n g d e r
E i n h e i t d e s G e i s t e s d e r G e s e l l s c h a f t , als eine Betätigung dieser
Einheit auf den verschiedenen Teilgebieten, wie sich schon in früheren Zusam-
menhängen ergab
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.
Da die metaphysische (ideenhafte) Anschauung der Wirklichkeit, die in der
Kunst liegt, stets durch den Bildungsinhalt und die geschichtliche Lebensbestimmt-
heit der Zeit hindurchgehen muß, auch von völkisch-rassischen Grundlagen nicht
unabhängig ist und anderem mehr, folgt: daß es w o h l v o l l k o m m e n e
K u n s t s t i l e g i b t ; d a ß e s a b e r k e i n e n f ü r a l l e Z e i t e n u n d
V ö l k e r v e r b i n d l i c h e n S t i l g i b t .
1
Siehe oben S
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346 f.