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Lebens verstanden, so erkennt man, daß er eine ähnliche Natur wie
die Kirche hat, deren Sinn es gleichfalls ist, ein bestimmtes geistiges
Leben, die Religion, durch Veranstaltung schöpferisch zu formen,
zu gestalten. Alles geistige Leben ist, sofern darstellend, gestaltend,
leibhaft, auch zugleich künstlerisch. In diesem Sinne sind S t a a t ,
R e l i g i o n u n d K u n s t d u r c h a u s w e c h s e l s e i t i g —
mag diese Behauptung für liberale Ohren noch so unglaubhaft klin-
gen. Der Staat der alten Athener, der die Tempel baute, die religiö-
sen Schauspiele, Tänze und Feste feierte, zeigt die Einheit des Staats-
und Religionslebens mit dem Kunstleben auf das deutlichste; aber
auch der Staat der alten Germanen und des Mittelalters zeigt in
einem ähnlichen religiösen Festlichkeitswesen, zeigt im Skalden-
und Sängerwesen der Höfe, im Glanze seiner Feierlichkeiten, in
seinen Mysterienspielen, in seinen Kriegsliedern die Kunst als einen
Teil des öffentlichen Lebens.
Früher galt es für Fürsten und Staatsmänner als Schande, die Kunst nicht
zu verstehen und zu schätzen, noch mehr, sie nicht zu fördern. (Man erinnere
sich, was die Sagas von dem Verhältnisse der germanischen Könige zu den
Skalden melden.) Davon haben die heutigen Staatsmänner, die so oft einem
wildgewachsenen Führertum entstammen, kaum noch eine Erinnerung, aber
trotz alledem stellt sogar der heutige Staat Kunst in seinen Dienst! Überall,
wo auch heute noch von Staats wegen D e n k m ä l e r errichtet, S t a a t s f e s t -
l i c h k e i t e n und große öffentliche Handlungen begangen, O r d e n verteilt,
wo Nationalhymnen gesungen werden, U n i f o r m e n als Schmuck prangen,
Flaggen wehen, und zugleich die amtliche Art ihrer Träger kennzeichnen, ist Kunst
am Werke und zeigt sich damit als notwendiger Bestandteil selbst des mechani-
siertesten, materialistischsten und zentralisiertesten Staates, den die Geschichte
kennt, des demokratischen Staates von heute.
Z u s a t z ü b e r d i e S t e l l u n g d e r K u n s t i n P l a t o n s
I d e a l s t a t
Platon hat bekanntlich die nachahmende Kunst aus seinem Idealstaate ver-
wiesen, soweit sie unnütz und verderblich schien. Diese Stellungnahme bedeutet
erstens eine Fehdeansage gegen gewisse realistische und unreligiöse Richtungen
der Kunst, sie ist aber zweitens aus der ganz anderen Stellung der Kunst im
Staatsleben her zu verstehen, welche ihr bei Platon im Vergleiche zum heutigen
Staate zukommt. Für Platon ist die Kunst richtig ein vollgültiger Bestandteil der
Staatsverfassung. Je innerlicher und geistiger ein Staat und eine Kultur, um so
weniger können sie ungeistige, unreligiöse und gar materialistische „Kunst“ ver-
tragen. Darum muß der wahre Staatsmann innerliche Beziehung zur Kunst haben.
Uber V o r r a n g l e h r e siehe unten
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1
Siehe S
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426 ff.