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Nach empiristischer Auffassung — welcher der Individualismus

entspricht — ist Sittlichkeit durch Lust und Unlust, durch Nutzen

im weitesten Sinne bestimmt, bei grober Fassung durch persönli-

chen, bei feinerer durch den gesellschaftlichen Nutzen: G e s e l l -

s c h a f t a l s / n ü t z l i c h e r U m w e g d e s E i n z e l n e n

z u s i c h s e l b s t

1

. Dabei ist dieses utilitarisch Gute relativ, je

nach psychologischen und geschichtlichen Umständen — sittlicher

Relativismus, Hedonismus, Utilitarismus sind die Folge.

Nach nicht-empiristischer Auffassung entspringt das Sittliche

nicht aus Nutzen, Glück, Lust- und Unlustverhältnissen. Es sind

zwei Arten der nichtempiristischen Bestimmung des Sittlichen mög-

lich, entweder eine formal-aprioristische: Kant, oder eine inhaltlich-

metaphysische: der objektive Idealismus von Platon-Aristoteles bis

Hegel.

Der Grundgedanke des letzteren ist, daß eine ü b e r s i n n l i -

c h e W i r k l i c h k e i t — die Ideenwelt im platonisch-aristote-

lischen Sinne — die reine Vollkommenheit des Geistursprünglichen

sachlich bestimme; und damit auch inhaltlich bestimme, was das

Vollkommene, das Gute, das Gerechte sei.

Der formal-aprioristische Standpunkt Kantens muß ausführlicher

dargestellt werden.

Es besteht zwischen dem G e s o l l t e n u n d d e m N a t u r g e g e b e n e n ,

dem Tatsächlichen — denn Nutzen und Lust sind nach Kant durch den natur-

gesetzlichen Ablauf des seelischen Geschehens bedingt — notwendig ein innerer

Unterschied. Das Gesollte wird nach rein normativem Gesetz entworfen, das

Gegebene unterliegt dem Kausalgesetz, der Naturursache. Diesen Unterschied hat

Kant folgendermaßen bezeichnet: „Alle Handlungen ... in irgendeiner Erfahrung

angetroffen ... stehen unter der Naturnotwendigkeit; eben dieselben Handlungen

aber, bloß respektive [= im Hinblick] . . . a u f das Vermögen nach bloßer Ver-

nunft zu handeln, sind frei.“

2

„Wir haben in uns ein Vermögen, welches nicht

bloß mit seinen subjektiv bestimmenden Gründen, welche die Naturursachen

seiner Handlungen sind, in Verknüpfung steht... [das heißt nicht Mechanismus

der Lust- und Unlustmotive ist], sondern auch auf objektive Gründe, die bloße

Ideen sind, bezogen wird..., welche Verknüpfung durch Sollen ausgedrückt

wird.“

3

— Dieses Vermögen heißt „V e r n u n f t“, es ist, als s o l l e n d e s ,

w e r t e n d e s , n o r m i e r e n d e s V e r m ö g e n , „ p r a k t i s c h e V e r -

n u n f t“. Diese Weise der Vernunft, sich r e i n i d e e l l , r e i n l o g i s c h ,

1

Siehe oben S. 120 f.

2

Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die

als Wissenschaft wird auftreten können (1783), herausgegeben von Karl Vor-

länder, 4. Aufl., Leipzig 1903, S. 114 (= Philosophische Bibliothek, Bd 40).

3

Immanuel Kant: Prolegomena . . . , Ausgabe Vorländer, S. 113.