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wesenswidrig eingerichtet. (Darum sein Schicksal: K u l t u r v e r f a l l b e i Z i -
v i l i s a t i o n s b l ü t e
1
.) Da nach der Vertragslehre jeder Einzelne g l e i c h
s e h r auf die absolute Fülle seiner individuellen Ur- und Naturrechte im Staats-
vertrage verzichtet, ergibt sich
(1)
Gleichheit der politischen Rechte; daraus wieder
(2)
Ein Staatsmittelpunkt, das heißt Zentralisation der Regierung und Staats-
gewalt, denn jeder Bürger ist dem Staat gleich nahe und gleich ferne, er braucht
nicht in einen besonderen „Stand“ einzutreten;
(3)
Zentralisation bedeutet Atomisierung; Atomisierung und Zentralisierung
bedingen sich gegenseitig. Im grellen Gegensatz zum ständischen Staat mit seinen
vielen Sonder-Mittelpunkten und Teilgewalten gilt für den individualistischen
Scheinstaat der Satz: Ein V o l k , E i n e R e g i e r u n g .
Wenn der individualistisch-atomistische Staat geschichtlich ein geraumes
Dasein führt, so beweist das nichts gegen die Schein-Natur dieser Staatsart. E r
b e s t e h t n u r d u r c h d i e V e r s t ä n d i s c h u n g , d i e i n i h m t r o t z
d e r a t o m i s t i s c h e n A u f m a c h u n g o f f e n o d e r h e i m l i c h f o r t -
d a u e r t , und er blüht, solange er das ständische Kapital erhält und von ihm
zehrt. Im aufgeklärten Absolutismus ist die weite Erhaltung des Ständischen
(Zunft und Adel!) sichtbar, im konstitutionellen Staate in geringerem, aber noch
sehr deutlichem Maße (Beamten-S t a n d, Erhaltung des zünftigen Bürgerstan-
des, des bäuerlichen Standes, später: Entstehen körperschaftlicher Gebilde in Kon-
zernen, Kartellen, Gewerkschaften, Genossenschaften und so fort). Erst in der
vollen ungehemmten Demokratie tritt die Gefahr in ganzer Schärfe auf. Hier
kann nur der große Führer die Kultur retten (Perikies!), die aber doch untergeht,
wenn der Führer nicht das atomistische Baugesetz des Staates selbst über-
windet: In G r i e c h e n l a n d f o l g t a u f P e r i k l e s d a s d e m o k r a -
t i s c h e C h a o s ; R o m w i r d d a r a u s d u r c h C ä s a r u n d A u g u -
s t u s g e r e t t e t .
5 .
D e r P f l a n z s t a a t ( K o l o n i a l s t a a t )
Der Pflanzstaat hat die Eigentümlichkeit, daß er auf der einen Seite allzu-
sehr den augenblicklichen zeitgemäßen Anforderungen, seien es kriegerische
(Indianerkämpfe in Nordamerika), seien es wirtschaftliche (Rodung, Handel,
Plantagen) unterworfen ist; sowie daß er auf der andern Seite:
(1)
auf die Aus- / gestaltung und organisatorische Befestigung überindivi-
dueller, kollektiver Geistigkeit, auf Bindungen, Autoritäten, Überlieferungen zu
wenig Wert legt und
(2)
auch sonst die Pflege der höheren Elemente im Geistesleben, so der Kunst,
Wissenschaft, Religion in den ihm als Höchststand unterstehenden Ständen und
Lebenskreisen zu wenig fördert.
Der demokratische Zug aller Pflanzstaaten (auch solcher, die von Statthaltern
der Könige verwaltet werden) kommt als drittes hinzu. Der Mangel an Bindung
und Autorität bedeutet ja an sich schon einen individualistischen Zug.
Durch all das kommen die Pflanzstaaten leicht in eine innere geistige Leere,
in eine gewisse Kulturarmut, und das Überwuchern von Zivilisation, Wirtschaft
und Technik ist die Folge. „Amerikanismus“ ist nicht nur auf Amerika beschränkt.
1
Vgl. mein Buch: Der wahre Staat, Jena 1921, § 16: Vom Werden und
Wesen unseres Zeitgeistes, S. 77 ff. [4. Aufl., Jena 1938, S. 59 ff.].