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Demokratie die Verderbnis jeder Kultur, d e n n d i e n i e d e r e n

K r ä f t e k ö n n e n i n i h r m e h r z u r G e l t u n g k o m -

m e n , a l s i h r e r F r u c h t b a r k e i t i n d e r G e m e i n -

s c h a f t s b i l d u n g e n t s p r i c h t . Nicht nur Perikles, sondern

auch der Gerber Kleon kann dann den Staat beherrschen.

An dieser Frage zeigt sich deutlich, daß die Staatstheorie nicht, wie man

heute meint, eine eigene Wissenschaft, sondern ein Teil der soziologischen Orga-

nisationslehre ist

1

.

E. Die E n t s t e h u n g d e s S t a a t e s

Die Entstehung des Staates kann nur als Wiedererzeugung, nie-

mals als erste Entstehung, aufgefaßt werden. Ein Volk ohne Staat

oder was ihm in einfachen Zuständen entspricht, zum Beispiel die

sogenannte „Gentilverfassung“, hat es nicht gegeben; eine geschicht-

liche Entstehung des Staates in diesem Sinne wäre daher ein Wider-

spruch. Der Staat gehört zur Gemeinschaft wie zum Löwen das

Fell. Dieser Urzusammengehörigkeit kann man nur gerecht werden,

wenn man die Natur des Staates in der Veranstaltung erkennt. Jede

dauernde Gemeinschaft und Genossenschaft ist organisiert. Veran-

staltung ist überall dort, wo Gemeinschaft ist.

Will man aber doch von einem Entstehen des Staates sprechen, so

kann man nur ins Auge fassen, wie er immer wieder neu vor

unseren Augen entsteht. Da die B e d i n g u n g e n f ü r s t a a t -

l i c h e O r g a n i s a t i o n s t ä t i g k e i t s t ä n d i g w e c h -

s e l n , e n t s t e h e n d i e T e i l e d e s S t a a t e s i m m e r

a u f s n e u e . Wie sich die Menschen vergemeinschaften, so orga-

nisieren sie sich, was sie gemeinsam empfinden und handelnd ver-

wirklichen, das organisieren sie. Auf diese Weise ist stets alles im

Flusse. Zum Beispiel bedeutet die Einführung der allgemeinen

Schulpflicht die Entstehung eines neuen Stückes „Staat“, weil neue

1

Stoff zur Frage der Demokratie bei Robert von Pöhlmann: Geschichte der

sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, 2 Bde, 2. Aufl., Mün-

chen 1913. Wilhelm Hasbach: Die moderne Demokratie, Eine politische Be-

schreibung, Jena 1913. Die Technik des Parlamentarismus erklärt Walther Lam-

bach: Die Herrschaft der 500, Ein Bild des parlamentarischen Lebens im neuen

Deutschland, Hamburg 1926.