[513/514]
607
D.
Die S t a a t s a r t e n n a c h d e m G a n z h e i t s g e f ü g e
u n t e r s c h i e d e n
Die Gewalt, auf welcher der Staat beruht, ist ihrem Wesen nach
nicht Unterwerfungsgewalt des Mächtigen gegenüber dem Schwa-
chen, des Siegers gegenüber dem Besiegten, vielmehr ist sie ihrer
Idee nach ausgleichende, zum Höchstmaß geistiger und werkmäßiger
Vergemeinschaftung der Glieder führende Gewalt. Unterwerfung
im Sinne von Ausbeutung ist Zerstörung von Gemeinschaft, daher
Unterwerfungs- und Ausbeutungsstaaten wesenswidrig und in der
Geschichte niemals Dauererscheinungen sind. Es gehörte die ganze
Haßnatur eines Marx und die vollkommene Befangenheit seiner
Nachbeter im Individualismus dazu, um den Begriff des Staates als
ausbeutenden „Klassenstaat“ und der Geschichte als „Geschichte von
Klassenkämpfen“ zu kennzeichnen. „Staat“ erweist sich seinem
W e s e n nach als Organisator des Lebens, als s c h ö p f e r i s c h e
Macht, nicht als Unterdrücker.
An einigen wichtigen Arten, wie Staatsgewalt ausgeübt wird —
Staatsarten gegenüber den „Staatsformen“, die bloß Leitungsformen
sind —, sei nun diese Begriffsbestimmung geprüft.
1
1. Der d u r c h U n t e r w e r f u n g e n t s t a n d e n e
S t a a t
Alle geschichtlich gegebenen Staatsgebilde können in gewissem Sinne auf-
gefaßt werden als durch Unterwerfung, oder durch Vorgänge, die sich davon
ableiten (zum Beispiel Befreiung), entstanden. Diese fallweise Entstehung durch
Unter- / werfungsgewalt ist aber etwas ganz anderes als das spätere B e s t e h e n
des Staates durch seine eigene Staatsgewalt, in dem er sein Wesen bewähren muß.
Die innere Idee des Staates (als Organisationsgebilde und Höchststand) hat
vielmehr solche Notwendigkeit in sich, daß auch jener Staat, welcher zwischen
Siegern und Besiegten gestiftet wird, ihr untersteht, indem er alsbald die
Härte des Siegers mildern, indem er ausgleichend wirken muß. Er nimmt sofort
jene Form an, welche dem Zusammenleben des Siegers mit dem Schwächeren
unter den gegebenen Umständen ein Höchstmaß verschafft, das heißt, er gewährt
den Unterworfenen wenigstens jenes Maß von Vergemeinschaftung und Verge-
nossenschaftung, welche das Zusammenleben in einer wenigstens für den Sieger
günstigen Weise gestaltet. Dieses Zusammenleben würde nutzlos leiden und
untergraben werden, wenn der Besiegte über jenes Maß hinaus bedrückt würde.
Nach dem Grade der verschiedenen Fähigkeiten, welche die Völker bei sol-
chen Zusammenstößen mitbringen, gestaltet sich daher das durch Unterwerfung
entstandene Staatswesen sehr verschieden. Barbarische Sieger vermögen unter-
worfene Kulturträger nur dann dauernd zu beherrschen, wenn sie sich selber