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staatlichen Gesamtleben der Menschheit überhöht. In d i e s e m
S i n n e i s t j e d e H e r r s c h e r g e w a l t a u f j e n e n Z u -
s a m m e n h a n g h i n g e w i e s e n , d e r d e n e i g e n e n g e i -
s t i g e n L e b e n s k r e i s , d e n s i e o r g a n i s i e r t , ü b e r -
h ö h t. Dieser größere Lebenszusammenhang ist zuletzt die christ-
lich-abendländische Kultur Europas. Darum ist der Staat gezwungen,
sich durch Staatsverträge und andere Einordnungen als Glied und
Unterstufe dieser wirksamen und lebendigen Über-Ganz- / heit
einzufügen und zu benehmen — bei Strafe ungeheurer Einengung
seines Lebensbereiches, bei Strafe der Barbarisierung, zuletzt des
Daseinsverlustes.
Besteht diese Überhöhung zu Recht und ist sie geschichtlich seit
unvordenklichen Zeiten überall aufweisbar, so besteht andererseits
dennoch k e i n e Ü b e r h ö h u n g d u r c h e i n e n f o r m e l -
l e n Ü b e r s t a a t . Einen solchen hat es in der Geschichte bisher
noch nicht gegeben. Die überhöhende Organisation besteht formell
nicht als Staat im engeren Sinn, sondern ist gleichsam ein anderes
genus, obzwar sie im genauen Sinne des Wortes Veranstaltung (Or-
ganisation) ist und bleibt. Demnach, wer einen „Überstaat“ im sel-
ben formellen Sinne wie den Staat, ein Völkerrecht in demselben
Sinne wie ein innerstaatliches Recht (das ist als Satzung eines Staa-
tes) behauptet, begeht eine
άνάβααισ έΐσ
άλλο
γένοσ;
er bedenkt
nicht, daß der Stufenbau des Staates nicht mehr durch eine
Anstalt von derselben Art überhöht wird, wie der Staat selbst ist.
Die Veranstaltung der Überhöhung besteht, wie gesagt, zwar tat-
sächlich, aber sie ist formell nicht von gleicher Art: es sind Staats-
verträge oder Einordnungen in Gesittungsvorschriften, nicht ein
Staat im engeren Sinn. Es besteht hier dasselbe Verhältnis wie zwi-
schen Volks- und Weltwirtschaft, das wir an anderer Stelle ausführ-
lich bestimmten.
I.
I. S t a a t u n d R e c h t . D i e V o r r a n g s ä t z e
Das Verhältnis von Staat und Recht pflegt im heute herrschenden
Schrifttum eine zweifache Behandlung zu finden. Die Neukantische
Schule behauptet die Einerleiheit von Recht und Staat, oder, ge-
nauer gefaßt, daß es wohl ein Recht gebe, aber keinen Staat, der nur