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Nach der Windelband-Rickertischen Logik soll die angeblich

grenzenlose Zahl individueller Merkmale im „Individualbegriffe“

nur dadurch „ausgewählt“, das heißt bewältigt werden können, daß

man sie hinterdrein auf allgemeine Werte „bezieht“. Aber, so fra-

gen wir, wie soll dieses nachträgliche „Beziehen“ vorgenommen

werden? Es müßten ja schon v o r h e r unendliche Einmaligkeiten

erfaßt worden sein, um nachher, hinterdrein ausgewählt zu werden

— und gerade das ist (nach der Voraussetzung) unmöglich! In Wahr-

heit handelt es sich bei der „idiographischen“ Begriffsbildung nicht

um Auswahl, sondern um Eingliederung der sinnlichen Einmalig-

keiten in das unserem Denken gegebene, in ihm apriorisch (nämlich

durch Teilnahme) vorgeformte Wesen. Die S i n n e s e i n -

d r ü c k e s i n d n i c h t f ü r s i c h v o r h e r g e g e b e n !

1

Hier taucht dann weiter die Frage der „Werturteile“ auf. Unrichtig

ist die Vorstellung, daß der Geschichtsforscher z u e r s t die Tat-

sachen habe, sie d a n n auf Werte beziehe, diese Werte selbst aber

vorher — stellungnehmend, wertend — auswähle. In Wahrheit hat

es der Geschichtsforscher von Anbeginn ausschließlich mit einer in

sich selbst sinnvollen, das heißt Werte in sich schließenden Tat-

sachenwelt zu tun. Schon die einfachste sinnliche Empfindung (also

ein Erkenntniselement) hat Bedürfnisart an sich (Durstempfindung

= Bedürfnis), ebensowenig ist der höchste Gedanke willensfrei.

Umgekehrt ist kein Bedürfnis ohne Empfindung (= sinnliches Er-

kenntniselement), kein Wille ohne Gedanken. So auch beim Ge-

schichtsforscher: J e d e „ T a t s a c h e n “ - A n a l y s e i s t d a -

h e r s c h o n e i n e W e r t a n a l y s e , und zwar schon in ihrer

Eigenschaft als G a n z h e i t s f e s t s t e l l u n g , das heißt als

Feststellung und Zergliederung des Ganzheits g e h a l t e s — der

ja sinnvoll, also in sich selbst Wert enthaltend ist.

Die A n a l y s e i s t a l s o d u r c h u n d d u r c h „ W e r t -

u r t e i l “ , allerdings kein bloß subjektives, sondern ein ihrer Na-

tur nach am Gegenstande sein Maß erhaltendes Werturteil. Aus dem

rein gegenständlichen, dem rein analytischen Befunde des Geschichts-

schreibers ergibt sich dann erst / das Urteil über die Vo l l k om-

m e n h e i t o d e r U n v o l l k o m m e n h e i t d e s G e g e n -

Vgl. oben S. 233.