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liche Wirklichkeit zuzubilligen und von der Wissenschaft einen
Beistand gegen die Antokratien durch „sachkundige Beratung bei
der folgerichtigen Einübung demokratischer Verhaltensformen und
beim Aufbau und Ausbau zweckentsprechender institutioneller Si-
cherungen" zu erwarten. Indem Topitsch andererseits Werturteile
in der Wissenschaft in Übereinstimmung mit Max Weber ablehnt,
weil sie nur auf einer überholten kausalmechanischen Kausalität be-
ruhen, so übersieht er, daß der Wertung ein analytischer Befund
vorausgeht, nach dem die gesellschaftlichen Erscheinungen nicht in
den Bereich der Kausalmechanik der Naturgesetze fallen, sondern
aus einem Kosmos von Ganzheiten abzuleiten sind.
Die „stammesgeschichtliche Kontinuität“ mit dem Tierreich
bleibt dagegen eine leere Behauptung, weil sie nicht kausal bewiesen
werden kann. Wenn Topitsch trotzdem annimmt, daß die gewollte
Beschränkung auf den naturkausalen Bereich eine erzieherische Wir-
kung auf die Gesellschaft hätte, so setzt er die naturkausale Be-
trachtungsweise von vornherein als Wert. Die von ihm im An-
schluß an Max Weber geforderte Wertfreiheit ist somit nicht vor-
handen.
Das Problem der Wertfreiheit beschäftigte selbstverständlich
auch die weitere Diskussion auf dem Heidelberger Soziologentag.
Talcott Parsons umschrieb es etwa als Freiheit, der Kausalerklärung
von Phänomenen und Tatsachen zu folgen, ohne sie durch andere
Wege als der kausalen Erkenntnis umzustoßen. Durch das Postulat
der Wertfreiheit habe Max Weber nach Ansicht von Dieter Hen-
rich die empirischen Forschungen von den Lebensentscheidungen
der handelnden Personen auf die radikalste Weise getrennt, wo-
durch die positivistische Soziologie gegen Hypothesen, die nicht
empirisch getestet werden können, und die Gesellschaft gegen Ideo-
logien gesichert werde
1
.
Die Sicherung gegen nicht verifizierbare Hypothesen durch
„kausale“ oder „rationale“ Tatsachenerklärung ist wohl ein Wunsch-
traum (siehe die oben erwähnte „stammesgeschichtliche Kontinui-
tät“). Lothar Tirala sieht in solchen Erwartungen richtige Massen-
psychosen der Wissenschaft
2
. Insbesondere hat die Erwartung, an-
1
Max Weber und die Soziologie heute, S. 46, 48 und 82.
2
Lothar Tirala: Massenpsychosen in der
Wissenschaft, in: Deutsche Hochschul-