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Was ist Sittlichkeit? — ohne Zweifel die Vollkommenheit, oder
da diese nie absolut erreichbar ist, die Vervollkommnung des gei-
stigen und handelnden Lebens
1
. Zum vollkommenen Leben gehört
aber zuerst ein Wissen um die Vollkommenheit.
Wo sollte aber, da der sinnliche, empirisch Vorgefundene Zustand
stets unvollkommen ist, das Wissen um die Vollkommenheit seine
letzte Wurzel haben als in der übersinnlichen, der mystischen Er-
fahrung, im unmittelbaren Erleben des höchsten Gutes? Aus der
sinnlichen Erfahrung allein ist der Begriff des vollkommenen Lebens
nicht zu schöpfen, weil das Leben im Sinnlichen nicht aufgeht;
anders gesagt, weil der Begriff des Guten rein hedonistisch, aus
der Lust, nicht zu begründen ist. Daher kann auch das empirisch-
rationale Denken allein das Wissen um die Vollkommenheit nicht
erlangen.
Die spekulative Analysis des Geistes, welche auf dessen meta-
physische Elemente stößt, ist aber wieder ohne einen mystischen
Faktor unmöglich. Wir sehen es ja auch im Licht der Geschichte,
daß das Bild des unvollkommenen Lebens von den metaphysisch-
religiösen Grundvorstellungen abhängt. Im Buddhismus / zum Bei-
spiel ist das sittliche Ideal deutlich vom Religiösen abhängig. Ebenso
steht es im indischen Asketentum, in der Lehre Zarathustras, im
Christentum. Überall ist das letzte Ziel der Ethik die Verähnlichung
mit Gott, die Vergottung (θεοειδές, όμοίωσις τφ θεφ)
2
. Die mystische
Gotteserfahrung aber erst sagt dem Menschen, was Gott sei und was
die Verähnlichung mit ihm. Das sehen wir bei allen Genannten, bei
Platon nicht minder als bei Plotin, in den Upanischaden nicht minder
als im Sufismus und in der urchristlichen sowie der mittelalterlichen
Mystik und Ethik.
Freilich sind solche innere Erfahrungen nur wenigen gegeben.
Aber sie sind darum die Führenden, von denen alle Kräfte höherer
Kultur ausgehen und welche das Bild des vollkommenen Lebens
formen, dem die anderen nachfolgen. Nur diesen wenigen kommt
1
Die Frage, wie diese Vollkommenheit zu verwirklichen möglich sei und wie
insbesondere die Möglichkeit der W i l l e n s f r e i h e i t gegenüber dem kausa-
len Weltbild der Modernen zu begründen sei, geht uns in diesem Zusammenhang
nichts an. Vielmehr handelt es sich hier darum, wie überhaupt ein Bild des voll-
kommenen Lebens gewonnen werde.
2
Platon, R 501 b, 613 b.