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Sie verfälschten dabei aber auch den wahren Sinn des Lebens.
Denn der Mensch hat nun einmal auf Erden eine Bestimmung und
diese Bestimmung muß bei Strafe der Verkümmerung und inneren
Verarmung erfüllt werden.
Endlich: sie mißverstanden auch den Gegensatz von Gottesreich
und irdischem Wandel. Dieser Gegensatz ist keine echte Antinomie,
seine Glieder schließen sich nicht schlechthin aus. Im Gegenteil: Sie
verlangen einander! Und dies insofern, als der Mensch nicht im
Schauen verweilt und als er darum des irdisch-naturhaften Daseins
bedarf — jedoch soll dieses Naturhafte allerdings nicht mehr als
ein solches, es soll als ein vom mystischen Kern her beseeltes und
zu beseelendes gefaßt werden. Die Erhöhung, die Vergottung des
Lebens und des eigenen Wesens — das ist die Aufgabe des Menschen
hienieden; keineswegs aber die Abwendung vom Leben.
Das Höhere weist auf das Niedere hin, das Übersein auf das Sein,
welches vom Ubersein einen Glanz in sich aufnehmen muß.
Überall, wo das Leben in Askese aufgelöst werden soll, wird
daher diese Askese relativ leer und das Leben selbst zerstört, wäh-
rend doch das eine nur durch das andere sein kann, wie auch Meister
Eckehart sagt:
„Wer aber got reht in der wârheit hât, der hat in in allen steten und in der
strâze unde bî allen liuten als wol als in der kirchen oder in der einoede / oder
in der zellen: ob er in anders reht hât und ob er in alleine hat, den menschen
enmac nieman gehindern“
1
.
„... were der mensche alsô in eime înzucke (Ekstase) als sanctus Paulus was
unde weste einen siechen menschen, der eins suppelins von ime bedörfte, ich ahte
verre bezzer, daz dû liezest von minne von dem zucke unde diendest dem dürf-
tigen in mêrre minne“
2
.
Ähnlich Dschuang Dsi: „Klar schauen das Leben der sichtbaren und unsicht-
baren Welt: das ist die große Wurzel.. . Wer Frieden hat mit dem Himmel, der
bringt die Welt ins Gleichgewicht. . .“
3
Für die praktische Durchführung ist nun entscheidend, zu er-
kennen, woher dem Mystiker die Kraft komme, die Welt zu
meistern, in ihr zu handeln und doch das Göttliche in ihr festzu-
halten. Halten wir uns zunächst an die großen Mystiker, so sehen
1
Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 547, Zeile 20—24.
2
Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, S. 553, Zeile 38—40 und S. 554, Zeile 1 f.
3
Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, XII, 2, aus dem
Chinesischen verdeutscht von Richard Wilhelm, Jena 1920.