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(des Immer) betrachten, oder sagen, daß sich erste zur letzteren
verhält, wie die Teile zum Ganzen“
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. Diesen für unser kausallogi-
sches Denken schwer verständlichen Satz vermag keine Lehre so
einsichtig zu kommentieren wie die Ganzheitsphilosophie, welche
die Ewigkeit nicht als die Summe aller Einzel-,,Zeiten“, sondern
beide in einem durchaus ganzheitlichen Verhältnis sieht, nämlich:
Ewigkeit ist die höchste (überzeitliche) Ganzheit; die einzelnen
Zeitepochen und Zeit-,,Momente“ sind ihre Glieder und Unter-
glieder. Die Zeit würde ja auseinanderfallen, wenn sie nicht gliedhaft
enthalten wäre im Überzeitlichen. Sie ist eine Kette von Gliedern, die
im Stufenbau von überzeitlichen Ganzheiten befaßt sind. Die oberste
dieser Ganzheiten ist die E w i g k e i t .
Das Überzeitliche ist dasjenige, das im Flusse der Zeit nicht unter-
geht. Ohne Überzeitliches wäre Bewußtsein, wäre Geschichte nicht
möglich. Dies führt uns Spann immer wieder in eindringlicher Klar-
heit vor Augen. Je mehr eine historische Zeit, eine Geschichtsepoche
diesem Überzeitlichen zugekehrt ist und je mehr sie in dieses hinein-
wirkt, umso mehr nimmt sie „Ewigkeit“ in sich auf, umso mehr gibt
sie und verleiht sie „Dauer im Wechsel“, umso mehr wird sie für die
Zukunft ,,G e g e n w a r t d e r V e r g a n g e n h e i t“. Das über-
zeitliche Reich der Ideen in der Zeit zu verwirklichen, ist die Auf-
gabe der Geschichte. Die G e s c h i c h t e i s t d i e z e i t -
l i c h e E n t f a l t u n g e i n e r ü b e r z e i t l i c h e n W e s e n -
h e i t .
Den Sprung von der Ruhe des Überzeitlichen zur „U n r u h e “
der Geschichte fuhrt uns ein weiterer Satz Baaders drastisch vor
Augen: „Wenn die Zeit als Suspension der Ewigkeit, oder insofern
sie Versetztheit ist, als Suspension der normalen Gesetztheit be-
griffen wird, diese Versetztheit aber als Zusammengesetztheit, folg-
lich als Nichteinheit, so muß freilich der Charakter alles Zeitlichen
jener des Nichtganzen oder Nichtintegren sein, und jenes muß die
dialektische Fortbewegung nach einem Jenseits, das heißt zur Integri-
tät, Vollheit oder dem Genügen des Seins in sich haben, welche Un-
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Franz von Baader: Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, herausgegeben von Johannes
Sauter, Jena 1925, (= Die Herdflamme, Bd 14). S. 538