[13/14]
23
bringen. Indem dadurch alle Wissenschaften — die ja gesellschaftliche Erscheinungen sind —
in ihren sozialen Bedingtheiten erfaßt werden, werden sie gleichzeitig „revolutioniert“.
Dieser Anschauung gemäß war für Comte die m e n s c h l i c h e G e s e l l s c h a f t
nichts anderes als ein „System gegenseitiger Abhängigkeit“, ein Geschehen, das die
Fortsetzung der biologischen Welt darstellte, nämlich die Wechselwirkung der „biologischen
Einheiten“, der Menschen.
Dieser Gedanke in Comtes Soziologie wird vor allem an seiner Unterscheidung einer
sozialen S t a t i k u n d D y n a m i k verständlich.
Der allgemeinste Begriff der statischen Soziologie ist der „ c o n s e n s u s u n i -
v e r s e
1
“, das ist der Allzusammenhang der „sozialen Elemente“, der „biologischen
Einheiten“ (nämlich der Menschen) untereinander; es wird von Comte auch als das Prinzip
der „Harmonie“, des „Gleichgewichtes“ oder der „Ordnung“ bezeichnet. Die „Statik“ Comtes
untersucht als „p h y s i q u e s o c i a l e “ den — nach Art der Mechanik gedachten —
Zusammenhalt des sozialen Lebens in den Bedingungen des Individuums, in der Familie (als
der Elementargesellschaft) und der Gesellschaft als Ganzem. Der mechanisch-physikalische
„consensus“ erhält zugleich (allerdings im utilitarischen Sinne zu verstehendes) sittliches
Gepräge, indem er zugleich als „ s o l i d a r i t e f o n d a m e n t a l e “ erscheint.
Der Hauptbegriff der dynamischen Soziologie dagegen ist die Verkettung aller
sukzessiven Veränderungen, das ist der Entwicklung nach dem Grundsatze des
ununterbrochenen F o r t s c h r i t t e s . Dieses „dynamische Prinzip“ folgte nach ihm aus
dem statischen der durchgängigen Solidarität der Teile; denn diese muß mit um so größerem
Rechte während der Bewegung bestehen, als jede Bewegung sonst, wie in der Mechanik,
spontan auf die völlige Zersetzung des Systems hinauslaufen würde. Die „Dynamik“
untersucht die Bewegung des sozialen Lebens. Ihr Hauptergebnis ist das „G e s e t z d e r
A u f e i n a n d e r f o l g e d e r d r e i Z u s t ä n d e“, nämlich „eines ursprünglich
theologischen, vorübergehend metaphysischen und schließlich positiven, die unsere
Intelligenz immer auf jedem Forschungsgebiete durchläuft“.
Von Comte zweigt sowohl eine biologische (sogenannte organische)
wie auch eine physikalisch-mechanische Schule ab
1
.
Der Grundgedanke der sogenannten „biologischen“ oder „organischen Schule“ ist die
Ähnlichkeit zwischen Gesellschaft und Organismus. Dieser Grundgedanke ist an sich richtig,
wird aber als Verfahren dadurch entwertet, daß der O r g a n i s m u s s e l b s t w i e d e r
a l s I n b e g r i f f c h e m i s c h - p h y s i k a
1
i s c h e r V o r g ä n g e g e f a ß t
w i r d , das heißt selbst wieder ebenso kausalmechanisch wie ein physikalischer
Mechanismus, z. B. der Gravitation. Wäre der Organismus von dieser Schule als ein
zweckvolles Gebilde gefaßt worden, so hätte auch das Verfahren umgebildet werden müssen
und nicht mechanisch bleiben können. Es hätte dann entweder teleologisch oder ganzheitlich
werden müssen. So aber blieb die sogenannte „organische Analogie“, wonach z. B. Nerven-
zentren, / Extremitäten, Stoffwechsel und so fort in der Gesellschaft zu unterscheiden wären,
im rohen, äußerlichen Vergleich stecken. (Parlament als Zentralnervensystem, Polizei als
Greiforgan, Wirtschaft als Stoffwechsel, die Kirche als Frau, der Staat als Mann und
dergleichen mehr.)
1
Letztere siehe unten S. 27.