30
[19]
Herbart für den Einzelnen feststellte, auch für die Völker gelten
(„Elementar-“ oder „Völkergedanke“).
Dieser Lehre stellte sich F r i e d r i c h R a t z e l entgegen, welcher
die Verbreitung der Kulturelemente (Ratzel ging von Pfeil und Bogen aus)
durch „Wanderung“, „Entlehnung“ nachwies und der Völkerkunde die
Aufgabe stellte, zu untersuchen, wie die Völker entstanden sind. Dabei ist
Ratzels Auffassung
1
mehr „Milieutheorie“
2
, während Bastians Auffassung
eine gewisse selbständige, überall gleiche Hervorbringungskraft des
menschlichen Geistes anerkennt.
B. Die K u l t u r k r e i s l e h r e
1 . D a r s t e l l u n g
Sowohl Bastian wie Ratzel wie die gesamte ältere Völkerkunde und
völkerkundliche Soziologie standen unter dem Banne des
naturwissenschaftlichen Verfahrens, und zwar in Form des dar-
winistischen Entwicklungsgedankens, wenn auch immerhin die
Ratzelsche Annahme einer Wanderung und Entlehnung der Kulturgüter
auch eine geschichtliche Seite hat. Erst als Leo F r o b e - n i u s
3
behauptete, eine aus Asien nach Ostafrika eingewanderte Kultur sei später
über Ostafrika in den Kongobogen und nach Westafrika vorgedrungen, als
dann nach der Jahrhundertwende B e r n h a r d A n k e r m a n n ,
F r i t z G r a e b n e r , E d u a r d H a h n , W i l l y F o y , P a u l
W i l h e l m S c h m i d t , W i l h e l m K o p p e r s und andere dazu
drängten, statt der früheren Vergleichung einzelner Kulturerscheinungen,
z. B. der Bewaffnung und Bestattung, ganze „Komplexe“
zusammengehöriger
Kulturäußerungen,
das
heißt
ganze
K u l t u r k r e i s e , zu untersuchen, trat eine grundsätzliche Wendung
im Verfahren der Völkerkunde ein. Nun waren nicht nur einzelne Dinge,
sondern ganze Kulturen
1
Friedrich Ratzel: Anthropogeographie (1882), 2. Aufl., Stuttgart 1899 [3. Aufl., Stuttgart
1909] (= Bibliothek geographischer Handbücher, Bd XVI).
2
Siehe unten S. 182 ff.
3
Leo Frobenius: Ursprung der Kultur, Bd 1: Ursprung der afrikanischen Kultur, Berlin
1898.