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gewandert. Das bedeutete schließlich den (allerdings nicht immer klar
bewußten) Versuch einer Abwendung vom naturwissenschaftlichen, also
zuletzt vom kausal-mechanischen Verfahren und von der darwinistischen /
Entwicklungslehre sowie einer Hinwendung zum g e s c h i c h t l i c h e n
V e r f a h r e n , also zu einem nicht-naturwissenschaftlichen Verfahren.
Vergleiche besonders die Schrift von F r i t z G r a e b n e r
1
. Man muß dabei allerdings
bedenken, daß die älteren Forscher auch die Geschichte kausalmechanisch erforschen
wollten, wie B u c k l e
2
und die materialistische Geschichtsmechanik M a r x e n s
3
beweisen; daß daher auch den Versuchen vor und nach Graebner noch manche
naturwissenschaftliche Eierschalen anhaften. — Zu den Anfängen der Kulturkreislehre kann
zum Teil auch W i l h e l m M a x W u n d t s Lehre von den „Zeitaltern“ gezählt werden
4
.
Die neu entstandene Richtung wollte die G e s c h i c h t e der Kulturkreise der
Naturvölker
schreiben,
sie
wollte
genealogische
Zusammenhänge,
nicht
ursächlich-mechanische Entwicklungen feststellen. Als ihr Hauptgrundsatz gilt: W e n n
s i c h b e i v e r s c h i e d e n e n N a t u r v ö l k e r n a n v e r s c h i e d e n e n
S t e l l e n d e r E r d e g l e i c h a r t i g e E r s c h e i n u n g e n v o r f i n d e n , s o i s t
a u f K u l t u r v e r w a n d t s c h a f t u n d e i n h e i t l i c h e E n t s t e h u n g z u
s c h l i e ß e n . Die Schule entwirft auf Grund von „Kulturparallelen“ das Bild verschiedener
Kulturen, die wie selbständige Organismen die Völker verschiedener Sprachen und selbst
verschiedenster geographischer Ausbreitung in sich fassen. (Verwandt sind damit auch
Grundgedanken in O s w a l d S p e n g l e r s Werk: Untergang des Abendlandes)
5
.
Bisher liegen zwei zusammenfassende Darstellungen der Kulturkreislehre vor. Die eine
von Fritz Graebner 1923, die andere von Paul Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers 1923
6
,
beide sind einander eng verwandt, die letztere ist aber weit genauer ausgearbeitet. Wir halten
uns daher an sie.
Schmidt und Koppers unterscheiden:
—
Urkulturen,
—
Ableitungen daraus und
—
Mischungen dieser Ableitungen untereinander,
die schließlich zu den geschichtlichen Hochkulturen führen. — Die alte darwini- stische
Vorstellung der einfachen linearen Entwicklung ist mit diesen Unterscheidungen verlassen.
An ihre Stelle tritt das Bild einer Ausstrahlung:
1
Fritz Graebner: Methode der Ethnologie, Heidelberg 1911 (= Kulturgeschichtliche
Bibliothek, Bd 1).
2
Siehe unten S. 45.
3
Siehe unten S. 47.
4
Schriften siehe unten S. 43.
5
Oswald Spengler: Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie der
Weltgeschichte, Bd 1: Gestalt und Wirklichkeit, Wien 1918.
6
Schriftenangaben siehe unten S. 44.