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stets in dem Ganzen selber, in dem Zusammenhange aller Teile, in
dem Angewiesensein aller auf alle. Auch das Zentralnervensystem
z. B., dieser vornehmliche Sitz von Geist und Leben, geht zugrunde,
wenn andere edle Organe geschädigt oder entfernt sind. — Noch ein
anderes, obwohl dem Geometrischen entnommenes Beispiel möge
die Gestalt eines Dreieckes bilden. Das Dreieck bildet als Gestalt ein
Ganzes mit „Eigenschaften“, z. B. der Eigenschaft, daß die Summe
aller Winkel 180 Grad beträgt. Diese Eigenschaft gehört nicht zu
dem oder jenem Winkel, zu dieser oder jener Seite, also nicht zu
einem bestimmten Bestandteile oder Teilindividuum im Dreiecke,
sondern ist ein Er / gebnis gerade der Gegenseitigkeit aller Teile,
genauer: der Ganzheit, in welcher die Teile befaßt sind. In diesem
Falle muß man also nicht einmal auf das „Leben“ und das „Orga-
nische“ zurückgehen, um das Wesen der Ganzheit zu finden, son-
dern diese zeigt sich auf das einfachste schon der bloßen geometrisch-
zergliedernden Betrachtung an: Als Gegenseitigkeit, als Entspre-
chung, die ein Gesetz aller Ganzheit ist. Hier (wo es sich nicht um
eine lebende Ganzheit, sondern nur um eine äußere Gestalt handelt)
bleibt gar nichts Selbständiges mehr zurück, das als Bestandteil-
Individuum ein Leben für sich zu führen vermöchte.
So trocken oder gar formalistisch beide Antworten erscheinen —
sie sind die Grundlage aller theoretischen wie politischen Ansichten
über das Wesen der Gesellschaft. Der Sinn dieser Antworten ist kein
geringerer als der, daß durch sie das Innere des Menschen aufgetan
werden soll. Dieses Eine vollkommen zu begreifen, ist das Um und
Auf aller Gesellschaftslehre.
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E r s t e r U n t e r a b s c h n i t t
Der Individualismus oder die Einzelheitslehre
§ 2. Der Begriff des Einzelnen
Jene Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Gesellschaft,
welche sagt: Die Gesellschaft ist eine Zusammensetzung von Indivi-
duen, heißt Individualismus oder zu deutsch Einzelheitslehre, Ein-