24
[15]
Begriff der Gesellschaft. Wer geistig nur aus sich selbst heraus lebt,
für den gibt es eine Sittlichkeit und eine Pflicht zwar sich selbst ge-
genüber, aber nicht dem anderen gegenüber; ein sittliches Verhält-
nis zu dem anderen (das über ihn selbst hinausginge) kann er nicht
haben. Der Einzelne, gleichsam als Herakles gefaßt, will bestimmte
Ziele erreichen, widersteht sogar dem Zeus und dem Schicksal. Zu
diesem seinem selbstgesteckten Ziele hat er ein sittliches Verhältnis,
zu dem anderen Menschen aber besteht kein sittliches Verhältnis.
Es besteht höchstens ein Vertrag — ein äußerer Vertrag, der sich
auf Hilfeleistungen bezieht, die geistige Selbstgenugsamkeit des In-
dividuums aber nicht an tastet. Die Einzelnen sagen sich: Wir wollen
dieses unbequeme Leben in Kampf oder Hilflosigkeit nicht weiter
leben, sondern wir helfen uns gegenseitig. Aber das berührt unsere
geistige Selbstgenugsamkeit nicht. Nietzsche sagt einmal: Der
Mensch will „ ... aus Not und Langerweile gesellschaftlich und her-
denweise existieren“.
1
Nicht also weil sie geistig etwas gibt, wäre
darnach Gesellschaft, sondern aus Not, wegen gegenseitiger äußer-
licher Hilfeleistungen, oder aus Langeweile, weil es dem Einzelnen
eben paßt (freie Willkür, nicht innere Notwendigkeit!). Ein geistig
wesenhaftes Verhältnis zu dem anderen ist nicht vorhanden.
Diese Überlegung ergibt die grundlegend wichtige, unsere ganze
Zeit, die ganze wissenschaftliche Entwicklung der letzten drei Jahr-
hunderte bestimmende Tatsache: Für den I n d i v i d u a l i -
s t e n g i b t e s w o h l e i n e I n d i v i d u a 1 e t h i
k
a b e r
k e i n e S o z i a l e t h i k , wohl individuelle, aber keine (ur-
sprüngliche) gesellschaftliche Sittlichkeit. Gesellschaftliche Verhal-
tensregeln bestehen ja in Wirklichkeit, aber sie sind nicht Ausdruck
einer Sittlichkeit, sondern nur einer Nützlichkeitserwägung. Daß ich
andere nicht umbringen, daß ich nicht stehlen, daß ich meine Ar-
beitspflichten erfüllen soll, das sind nur Gebote, die in Beziehung
auf die gegenseitigen äußeren Hilfeleistungen bestehen, welche die
„Gesellschaft“ ausmachen. Es sind Gebote des Nothaften, nicht der
eigenen Geistigkeit, nicht der eigenen individuellen Sittlichkeit.
Denn das Sittliche muß aus dem inneren Gebote und Gesetze des
Geistigen kommen.
1
Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
(1873), Leipzig 1929, S. 607 (= Bd 1 der Taschenausgabe Kröner).