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Begriff der Gesellschaft. Wer geistig nur aus sich selbst heraus lebt,

für den gibt es eine Sittlichkeit und eine Pflicht zwar sich selbst ge-

genüber, aber nicht dem anderen gegenüber; ein sittliches Verhält-

nis zu dem anderen (das über ihn selbst hinausginge) kann er nicht

haben. Der Einzelne, gleichsam als Herakles gefaßt, will bestimmte

Ziele erreichen, widersteht sogar dem Zeus und dem Schicksal. Zu

diesem seinem selbstgesteckten Ziele hat er ein sittliches Verhältnis,

zu dem anderen Menschen aber besteht kein sittliches Verhältnis.

Es besteht höchstens ein Vertrag — ein äußerer Vertrag, der sich

auf Hilfeleistungen bezieht, die geistige Selbstgenugsamkeit des In-

dividuums aber nicht an tastet. Die Einzelnen sagen sich: Wir wollen

dieses unbequeme Leben in Kampf oder Hilflosigkeit nicht weiter

leben, sondern wir helfen uns gegenseitig. Aber das berührt unsere

geistige Selbstgenugsamkeit nicht. Nietzsche sagt einmal: Der

Mensch will „ ... aus Not und Langerweile gesellschaftlich und her-

denweise existieren“.

1

Nicht also weil sie geistig etwas gibt, wäre

darnach Gesellschaft, sondern aus Not, wegen gegenseitiger äußer-

licher Hilfeleistungen, oder aus Langeweile, weil es dem Einzelnen

eben paßt (freie Willkür, nicht innere Notwendigkeit!). Ein geistig

wesenhaftes Verhältnis zu dem anderen ist nicht vorhanden.

Diese Überlegung ergibt die grundlegend wichtige, unsere ganze

Zeit, die ganze wissenschaftliche Entwicklung der letzten drei Jahr-

hunderte bestimmende Tatsache: Für den I n d i v i d u a l i -

s t e n g i b t e s w o h l e i n e I n d i v i d u a 1 e t h i

k

a b e r

k e i n e S o z i a l e t h i k , wohl individuelle, aber keine (ur-

sprüngliche) gesellschaftliche Sittlichkeit. Gesellschaftliche Verhal-

tensregeln bestehen ja in Wirklichkeit, aber sie sind nicht Ausdruck

einer Sittlichkeit, sondern nur einer Nützlichkeitserwägung. Daß ich

andere nicht umbringen, daß ich nicht stehlen, daß ich meine Ar-

beitspflichten erfüllen soll, das sind nur Gebote, die in Beziehung

auf die gegenseitigen äußeren Hilfeleistungen bestehen, welche die

„Gesellschaft“ ausmachen. Es sind Gebote des Nothaften, nicht der

eigenen Geistigkeit, nicht der eigenen individuellen Sittlichkeit.

Denn das Sittliche muß aus dem inneren Gebote und Gesetze des

Geistigen kommen.

1

Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

(1873), Leipzig 1929, S. 607 (= Bd 1 der Taschenausgabe Kröner).