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gen anzusehen. Die Menschen treiben ihre Wirtschaft durch Ar-
beitsteilung, überall herrsche gegenseitiges Sichunterstützen und
-helfen. — Aber dieser Einwand ist nicht stichhältig. Er geht nur
auf das Äußerliche, das Nothafte (Utilitarische), nur auf das, was
der Mensch als körperlich-sinnliches Wesen ist, also auf Nahrung,
Kleidung, Wirtschaft, Technik, nicht jedoch auf die geistige Wesen-
heit; auf diese allein aber kommt es an! Der Individualist darf sich
mit Recht auf die rein geistige Selbstgenugsamkeit zurückziehen.
Machen wir uns den Begriff des geistig selbstgenugsamen Men-
schen an Beispielen klar. Das erste, bekannteste ist
a.
Der Mensch im Urzustande, von dem das neuere „Naturrecht“
spricht. Mit einer seltenen Folgerichtigkeit hat der Engländer
H o b b e s den Urzustand so gedacht, daß er ein Krieg aller gegen
alle sei („bellum omnium contra omnes“), etwa wie bei Raubtieren
(oder vielmehr weit schlimmer als bei ihnen, da sich die Angehöri-
gen derselben Gattung denn doch nicht gegenseitig auffressen!).
Nach der Säugung schweift das Tier einsam umher — daher
Nietzsche von einer „einsam schweifenden Bestie“ spricht. Wir sollen
also allein stehende Menschen denken, die sowohl im „Kriege aller
gegen alle“ als auch in der „Furcht aller vor allen“ leben — ein
sehr unpraktischer Zustand, der diese Leute nicht zur Ruhe kom-
men läßt. Das bestimmt sie, zu einem „Urvertrag“ zusammenzu-
treten; sie verbannen den Kampf, gewährleisten einander Sicherheit
und Eigentum, helfen einander wirtschaftlich, soweit es ihnen paßt
und ziehen sich nur geistig auf sich selbst zurück. Das heißt: Gesell-
schaft und Wirtschaft werden als Gebäude gegenseitiger Hilfeleistun-
gen und gegenseitigen Schutzes aufgerichtet, aber geistig bleibt jeder
Einzelne, was er ist: Grundlage seines Lebens ist nach wie vor das
geistige Sich-selbst-Genügen. Der Staat ist nur ein Schutzverein, die
Volkswirtschaft ein äußerlicher Hilfentausch, der im Bereiche der
Nützlichkeit (Utilität) verharrt; die geistige Selbstherrlichkeit, das
geistig Auf-sich-selbst-gestellt-Sein bleibt unangetastet.
b.
Diese naturrechtliche Denkweise ist in der Tat das letzte Wort
des Individualismus. Man kann aber das Innerliche an dieser Art
die Gesellschaft zu denken, noch weit lebhafter und bedeutender
empfinden. In der Mythologie der Griechen könnte man den auf
sich selbst gestellten, aus sich allein alle Kraft schöpfenden Menschen
als den Herakles, in der Mythologie der Germanen als den Gott