258
lila). S i m m e l s Lösung des gesellschaftsbegrifflichen Problems ist
aber — und das muß in anderer Hinsicht sogar zu seiner E n t l a s t u n g
hervorgehoben werden—n e g a t i v in dem Sinne, daß die Existenz eines
selbständig beschreibbaren gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges
oder Kollektivums geleugnet wird (weshalb z. B. unter anderem keine der
beiden obigen prinzipiellen Auffassungen von seiner Begriffsbestimmung
der Soziologie ganz zutreffend sein kann). Gesellschaft gilt ihm mehr im
Sinne eines Sammelnamens
1
.
Jeder negativen Lösung des Problems haftet als solcher bereits ein
notwendiger Widerspruch an: wer das P r o b l e m des selbständig
bezeichenbarenWesens eines Gesellschaftlichen als solchen bearbeitet und
a n e r k e n n t — und das geschieht bereits, indem die das Problem
setzenden Tatsachen (des Übersichselbsthinausstre bens der sozialen
Einzelwissenschaften) als Versuch zur Zusammenfassung zu innerer
Einheit gedeutet werden — der k a n n e s s c h o n n i c h t m e h r
n e g a t i v l ö s e n . Es gibt hier ähnlich wie in der Erkenntnistheorie
keinen Skeptizismus. Wer die Frage nach der Wahrheit überhaupt stellt,
darf sie nie mehr skeptizistisch beantworten. Gleichwie der Satz „alle
Wahrheit ist nur relativ“ seine eigene Gültigkeit aufhebt, indem er sich
selbst zufolge unwahr ist, so auch hier: wer Inhalte als „gesellschaftliche“
zusammenfaßt und an ihnen das zu bestimmen sucht, was sie eigentlich zu
ges e l l s c h a f t l i c h e n als solchen macht, wer mit anderen Worten
ein Gesellschaftliches als irgendwie Einheitliches, Ganzes auf die Eigenart
des spezifischen Gesamtzusammenhanges hin untersucht, erkennt es eben
damit in seiner selbständigen Beschreibbarkeit bereits an, und er würde
daher in der Ablehnung s e i n e e i g e n e P r ä m i s s e leugnen. Im
Falle irgend welcher Anerkennung der Gültigkeit des Problems suchen wir
damit nämlich notwendig schon
1
„.. . Gesellschaft ist nicht eine absolute Einheit, die erst da sein müßte, damit alle die
einzelnen Beziehungen ihrer Mitglieder: Uber- und Unterordnung, Kohäsion,
Nachahmungen, Arbeitsteilung, Tausch . .. und viele andere in ihr als dem Träger oder
Rahmen entstünden. Sondern Gesellschaft ist nichts als die Zusammenfassung oder der
alleinige Name für die Gesamtheit dieser speziellen Wechselbeziehungen.“ (Georg Simmel:
Philosophie des Geldes, Leipzig 1900, S. 144 f.; vgl. ferner: Über soziale Differenzierung, in:
Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, herausgegeben von Gustav Schmoller, Bd
10, Leipzig 1890, Kapitel I passim.)