254
berechtigung der Soziologie als einer besonderen Wissenschaft…“
1
Diese Bestimmung der Soziologie entwickelt er näher so: „Gesellschaft
im weitesten Sinne ist offenbar da vorhanden, wo mehrere Individuen in
Wechselwirkung traten. Die b e s o n d e r e n U r s a c h e n u n d
Z w e c k e , ohne die natürlich nie eine Vergesellschaftung erfolgt,
b i l d e n g e w i s s e r m a ß e n d e n K ö r p e r , d a s M a t e r i a l
d e s s o z i a l e n P r o z e s s e s ; d a ß d e r E r f o l g d i e s e r
U r s a c h e n , d i e F o r d e r u n g d i e s e r Z w e c k e g e r a d e
e i n e W e c h s e l w i r k u n g , e i n e V e r g e s e l l s c h a f t u n g
u n t e r d e n T r ä g e r n h e r v o r r u f t , d a s i s t d i e F o r m ,
i n d i e j e n e I n h a l t e s i c h k l e i d e n , und auf deren
Abtrennung von den letzteren vermöge wissenschaftlicher Abstraktion die
ganze Existenz einer speziellen G e s e l l s c h a f t s Wissenschaft beruht.
Denn nun zeigt sich sofort, daß die gleiche Form, die gleiche Art der
Vergesellschaftung an dem allerverschiedensten Material... ein treten
kann.“
2
Solche Formen sind: Über- und Unterordnung, Konkurrenz,
Nachahmung, Opposition, Arbeitsteilung usw. Die Soziologie ist daher die
„Wissenschaft von den Beziehungsformen der Menschen untereinander“,
das heißt „sie erforscht dasjenige, was in der Gesellschaft ,Gesellschaft' ist“
3
.
Hiernach ist die Soziologie die Wissenschaft von dem s p e z i f i s c h
G e s e l l s c h a f t l i c h e n . Aber der Sinn dieses Wortes ist mit einem
Male ein anderer. Die Wechselwirkung wird zur „Form“ eines „Inhaltes“!
Die oben von uns im Drucke hervorgehobene Stelle bezeichnet den Punkt,
wo die, natürlich unbewußte, Erschleichung des Begriffes der sozialen
Form stattfindet. Hier sind es nämlich Zwecksetzungen (oder andere
„besondere Ursachen“) der Individuen, die die Wechselwirkung zwischen
denselben hervorrufen. Und diese Wechselwirkung ist dann die „Form“
jener „In
1
Georg Simmel: Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe, in: Schmollers Jahrbuch für
Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg 22, Heft 2, Leipzig
1898, S. 235 f.
2
Georg Simmel: Das Problem der Soziologie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung,
Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg 18, Heft 4, Leipzig 1894, S. 273 (im
Original nicht gesperrt).
3
Georg Simmel: Das Problem der Soziologie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung,
Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg 18, Heft 4, Leipzig 1894, S. 275.