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vertrage, nur des äußeren Nutzens halber eingeht. Der U n i -
v e r s a l i s m u s g e h t v o n d e m B e g r i f f e d e r G e s e l l -
s c h a f t a l s e i n e r g e i s t i g e n G a n z h e i t a u s , deren gei-
stige Glieder (Organe) bloß die Einzelnen sind. Indem nun nach
universalistischer Ansicht Kern und Angelpunkt des menschlichen
Zusammenlebens in der geistigen Gemeinschaft oder G e z w e i -
u n g (infolge der Gegenseitigkeit zweier) liegt, wird das Wachsen
und Werden, das die Menschen aneinander erfahren, eine eigene,
eine selbständige Erscheinung, und zwar die Urerscheinung der
Gesellschaft. Die gegenseitige Anfeuerung und Auferweckung, die
wechselseitige Entwicklung aneinander, welche weit über mechanisch-
nützliche Vereinshilfe hinausgeht, wird zum schaffenden Prinzip
des Einzelnen, zum geistig-moralischen Geburtshelfer. Die Ge-
s e l l s c h a f t i s t d a m i t d a s s c h ö p f e r i s c h e P r i n z i p
d e s i n d i v i d u e l l e n L e b e n s , die geistige Lebensform des
Einzelnen. Nach der individualistischen Auffassung ist der Mensch
innerlich selbständig und autark, nach der universalistischen w i r d
er überhaupt erst in und durch Gemeinschaft; er ist vor Ein-
gehen in diese nur eine bloße Möglichkeit, erst in geistiger Ge-
genseitigkeit, in Gezweiung, bringt er seine Individualität und
seine sittliche Wesenheit zur Entfaltung — als Glied einer Ganz-
heit.
Gesellschaft in solcher eigener Wesenheit und Würde ist nicht
mehr bloße Summation, bloße Häufung, auch nicht bloßer Sicher-
heitsverband; sondern innere Gegenseitigkeit und Verantwortlich-
keit kennzeichnen ihre Aufgabe. Der Staat wird aus einer Not-
einrichtung (die er individualistisch ist) zu einer sittlichen Ganz-
heit und zu einer Erziehungseinrichtung, zum Kulturinstitut mit
demselben Ziel und Prinzip, das dem geistig-moralischen Werden
der / Einzelnen zugrunde liegt, dem Guten. Das Wesen und Bau-
gesetz der Gesellschaft ist daher nicht wie beim Individualismus die
Freiheit, sondern die G e r e c h t i g k e i t , und zwar die nach
Aristoteles sogenannte austeilende oder distributive Gerechtigkeit.
„Gerechtigkeit“ sagt, daß der Einzelne als Organ des Ganzen aus-
gebildet werden soll und — vom Standpunkt des Einzelnen aus
— daß er in dem ihm zukommenden, das heißt seine wertvollen
Fähigkeiten ausbildenden Ganzen Glied sein, ausgebildet werden