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die für die Gesellschaftswissenschaften entscheidende Entsprechung
an. Hier ist nun leicht einzusehen, daß dem physikalischen Atomis-
mus und dem seelischen Atomismus (Assoziationspsychologie) ein
gesellschaftlicher Atomismus entspricht. Dieser hat aber von jeher
den Namen Individualismus oder Subjektivismus. Ohne es selber
klar zu wissen, hat Auguste Comte, der Hauptbegründer der neuzeit-
lichen naturalistischen „Soziologie“, den Standpunkt des Individua-
lismus auf vollendete Weise in seiner Lehre von der „Hierarchie der
Wissenschaften“ begründet. Danach sollen die Wechselwirkungen
oder Zusammenhänge der astronomischen und physikalischen Ein-
heiten durch Astronomie und Physik erforscht werden, jene inner-
halb des physiologischen Organismus (der als Inbegriff physikalisch-
chemischer Vorgänge zu denken ist) durch die Biologie und (nun
kommt der ebenso folgerichtige als entscheidende Gedankengang)
die Wechselwirkungen oder durchgängigen Zusammenhänge („Con-
sensus universel“) der biologischen Einheiten untereinander, das
heißt: der Mensch in der Gesellschaft, durch die „Soziologie“ oder
Gesellschaftslehre. Diese Auffassung ist reinster Individualismus, da
hiermit
(1)
die Gesellschaft das n a c h t r ä g l i c h e E r g e b n i s der
Wechselbeziehungen der „biologischen Einheiten“, der Menschen,
ist;
(2)
diese „biologischen Einheiten“ als die Teile der Gesellschaft
vor dieser bestehen; also: von sich aus bestehen, in sich selbst be-
gründet sind, ihre eigene ursprüngliche Realität vor der Gesellschaft
haben; das heißt aber, daß hier die Gesellschaft aufgefaßt wird nach
dem Satz: Der T e i l i s t v o r d e m G a n z e n . — Comtes
Auffassung ist ferner
(3)
auch insofern reiner Individualismus, als daraus das natur-
wissenschaftliche, das k a u s a l m e c h a n i s c h e V e r f a h r e n
für die Soziologie folgt. Die Wechselbeziehung der biologischen
Einheiten kann selbstverständlich nach keinen anderen Grundsätzen
erforscht werden als die der physikalischen Einheiten, also natur-
wissenschaftlich, nach mechanischer Ursächlichkeit.
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Was sich bei Comte zeigt, zeigt sich grundsätzlich schon bei den
Sophisten des Altertums („der Mensch ist das Maß aller Dinge“ —
Subjektivismus); bei den Nominalisten des Mittelalters (es gibt kein
Allgemeines, es gibt nur Einzelnes, also ist auch in der Gesellschaft
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