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[181]

Ein ebenso greller Widerspruch ist der endlose Fortschritt. Ge-

wiß gibt es Vorziele, Zwischenziele, Durchgangsstufen, durch die

man zu einem Endziele fortschreiten kann, aber ohne ein Endziel,

ohne ein Letztes wird die Bewegung wieder sinnlos. Wohin soll

man fortschreiten? Ein Zweck, der immer wieder überhöht wird,

ein Fortschritt, auf den immer wieder ein weiterer Fortschritt folgt,

ist keiner mehr. Er hebt sich selbst auf und wird zum sinnlosen

Spiele eines Notwendigen, zum blinden Fortgange ohne Aufhören.

„Fortschritt“ widerspricht jeder Gestaltenschau.

Der geschichtsphilosophische Fortschrittsgedanke ist begrifflich

wie menschlich eine Ungeheuerlichkeit. Er wurde denn auch von

den tiefsten Denkern jener Zeiten, den Romantikern und den Philo-

sophen des deutschen Idealismus, niemals übernommen, sondern

heftig bekämpft. Schon im Kantischen Kritizismus wurde auf dem

Gebiete der Erkenntnis, der Sittlichkeit und der Kunst durch den

Begriff des „Apriori“ der Fortschrittsgedanke überwunden. (Nur

im Politischen hatte sich Kant noch nicht davon frei gemacht.) —

Ihre eigentliche Stätte hatte diese Lehre in den mechanischen Natur-

wissenschaften, wo ja seit Galilei niemals große Denker, sondern nur

glückliche Finder, Menschen zwar nicht ohne Eingebung und Ge-

schick, aber ohne Gedankentiefe am Werke waren und die Flachheit

ihre Siege feierte.

Aber mit der Zeit mußten die Fortschrittslehren durch vertiefte

Erkenntnisse sogar in den einzelnen naturwissenschaftlichen Fächern

selbst in Frage gestellt werden.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, darzustellen, wieweit und

wodurch die oben genannten Lehrbegriffe in der Wissenschaft auf

Schwierigkeiten stießen. Eine kurze Andeutung möge genügen. Die

Kant-Laplacische Hypothese, auch in ihren von Arrhenius und an-

deren geänderten Formen, erscheint voller Widersprüche, welche in

der letzten Zeit zu mehr als einer Gegenhypothese führten; die

Lehre von der Urzeugung hat sich als unhaltbar erwiesen; der

Lamarckismus ist begraben; der Darwinismus ist durch die Mende-

lische Lehre und den Vitalismus überwunden oder doch sehr stark

eingeengt, und selbst das Bild der Paläontologie und Erdgeschichte

ändert sich

1

. In der Literaturgeschichte, in der Kunstgeschichte, in

1

Vgl. Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit (1924), 5. Aufl., München

1928.