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Ein ebenso greller Widerspruch ist der endlose Fortschritt. Ge-
wiß gibt es Vorziele, Zwischenziele, Durchgangsstufen, durch die
man zu einem Endziele fortschreiten kann, aber ohne ein Endziel,
ohne ein Letztes wird die Bewegung wieder sinnlos. Wohin soll
man fortschreiten? Ein Zweck, der immer wieder überhöht wird,
ein Fortschritt, auf den immer wieder ein weiterer Fortschritt folgt,
ist keiner mehr. Er hebt sich selbst auf und wird zum sinnlosen
Spiele eines Notwendigen, zum blinden Fortgange ohne Aufhören.
„Fortschritt“ widerspricht jeder Gestaltenschau.
Der geschichtsphilosophische Fortschrittsgedanke ist begrifflich
wie menschlich eine Ungeheuerlichkeit. Er wurde denn auch von
den tiefsten Denkern jener Zeiten, den Romantikern und den Philo-
sophen des deutschen Idealismus, niemals übernommen, sondern
heftig bekämpft. Schon im Kantischen Kritizismus wurde auf dem
Gebiete der Erkenntnis, der Sittlichkeit und der Kunst durch den
Begriff des „Apriori“ der Fortschrittsgedanke überwunden. (Nur
im Politischen hatte sich Kant noch nicht davon frei gemacht.) —
Ihre eigentliche Stätte hatte diese Lehre in den mechanischen Natur-
wissenschaften, wo ja seit Galilei niemals große Denker, sondern nur
glückliche Finder, Menschen zwar nicht ohne Eingebung und Ge-
schick, aber ohne Gedankentiefe am Werke waren und die Flachheit
ihre Siege feierte.
Aber mit der Zeit mußten die Fortschrittslehren durch vertiefte
Erkenntnisse sogar in den einzelnen naturwissenschaftlichen Fächern
selbst in Frage gestellt werden.
Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, darzustellen, wieweit und
wodurch die oben genannten Lehrbegriffe in der Wissenschaft auf
Schwierigkeiten stießen. Eine kurze Andeutung möge genügen. Die
Kant-Laplacische Hypothese, auch in ihren von Arrhenius und an-
deren geänderten Formen, erscheint voller Widersprüche, welche in
der letzten Zeit zu mehr als einer Gegenhypothese führten; die
Lehre von der Urzeugung hat sich als unhaltbar erwiesen; der
Lamarckismus ist begraben; der Darwinismus ist durch die Mende-
lische Lehre und den Vitalismus überwunden oder doch sehr stark
eingeengt, und selbst das Bild der Paläontologie und Erdgeschichte
ändert sich
1
. In der Literaturgeschichte, in der Kunstgeschichte, in
1
Vgl. Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit (1924), 5. Aufl., München
1928.