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VI.
Von der Geschichte des Universalismus
Der Universalismus herrscht in allen glänzenden Zeiten der Ge-
schichte, der Individualismus in allen Zeiten beginnender Auflösung
und schließlich des Verfalles. Die altchinesische, die altindische, die
altgriechische, die mittelalterliche Philosophie waren in ihren klas-
sischen Ausprägungen — Laotse, Kungfutse, Upanischaden, Pytha-
goras, Platon, Aristoteles, Thomas — universalistisch. Platon
1
sah
den Staat nicht als Vertrag Einzelner, sondern als ein objektives
Gebilde, als eine Inkarnation der Idee des Guten an. Der Staat
schien ihm ein Organismus höherer Ordnung, der Mensch dagegen
ein Staat im Kleinen. Ähnlich Aristoteles
2
und Thomas
3
.
In der Neuzeit jedoch gelangte, nach dem Kulturbruche, der im
scholastischen Nominalismus vorbereitet und durch Renaissance
und Humanismus vollzogen wurde, die individualistische Natur-
rechtstheorie zur Herrschaft, welche, wie wir oben
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sahen, den
Staat nur als einen nützlichen Verein der Einzelnen ansah („Volks-
souveränität“). Dem Universalismus der Antike und des Mittel-
alters wird von nun an im englischen Empirismus (John Locke,
David Hume) und in der französischen Aufklärung der Individualis-
mus entgegengesetzt. — Aber die individualistische Auffassung des
Staates erwies sich praktisch wie begrifflich gleich unzureichend.
Wenn sich die Menschen gegenseitig nichts als ihre Freiheit gewähr-
leisten, entstehen sowohl schwere wirtschaftliche Schäden, durch
schlechte Lage der Besitzlosen, wie geistig-sittliche Schäden, ja zu-
letzt droht durch geringe Ausbildung von Gemeinschaften und
Bindungen, durch rücksichtslosen Wettkampf der Einzelnen, durch
zerfahrene, materialistische Gesinnung, Überwucherung der Zivili-
sation, der Verfall alles höheren metaphysischen und geistigen Le-
bens, der Kulturtod.
Das Bewußtsein von der Unzulänglichkeit einer solchen Gesell-
1
Vgl. den Artikel: Platon, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften,
Bd 6, 4. Aufl., Jena 1925, S. 877 ff.
2
Vgl. den Artikel: Aristoteles, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften,
Bd 1, 4. Aufl., Jena 1922, S. 920 ff.
3
Vgl. den Artikel: Thomistische Gesellschafts- und Wirtschaftslehre, in: Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften, Bd 8, 4. Aufl., Jena 1928, S. 244 ff.
4
Siehe oben S. 70.
10 Kleine Schriften