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145

VI.

Von der Geschichte des Universalismus

Der Universalismus herrscht in allen glänzenden Zeiten der Ge-

schichte, der Individualismus in allen Zeiten beginnender Auflösung

und schließlich des Verfalles. Die altchinesische, die altindische, die

altgriechische, die mittelalterliche Philosophie waren in ihren klas-

sischen Ausprägungen — Laotse, Kungfutse, Upanischaden, Pytha-

goras, Platon, Aristoteles, Thomas — universalistisch. Platon

1

sah

den Staat nicht als Vertrag Einzelner, sondern als ein objektives

Gebilde, als eine Inkarnation der Idee des Guten an. Der Staat

schien ihm ein Organismus höherer Ordnung, der Mensch dagegen

ein Staat im Kleinen. Ähnlich Aristoteles

2

und Thomas

3

.

In der Neuzeit jedoch gelangte, nach dem Kulturbruche, der im

scholastischen Nominalismus vorbereitet und durch Renaissance

und Humanismus vollzogen wurde, die individualistische Natur-

rechtstheorie zur Herrschaft, welche, wie wir oben

4

sahen, den

Staat nur als einen nützlichen Verein der Einzelnen ansah („Volks-

souveränität“). Dem Universalismus der Antike und des Mittel-

alters wird von nun an im englischen Empirismus (John Locke,

David Hume) und in der französischen Aufklärung der Individualis-

mus entgegengesetzt. — Aber die individualistische Auffassung des

Staates erwies sich praktisch wie begrifflich gleich unzureichend.

Wenn sich die Menschen gegenseitig nichts als ihre Freiheit gewähr-

leisten, entstehen sowohl schwere wirtschaftliche Schäden, durch

schlechte Lage der Besitzlosen, wie geistig-sittliche Schäden, ja zu-

letzt droht durch geringe Ausbildung von Gemeinschaften und

Bindungen, durch rücksichtslosen Wettkampf der Einzelnen, durch

zerfahrene, materialistische Gesinnung, Überwucherung der Zivili-

sation, der Verfall alles höheren metaphysischen und geistigen Le-

bens, der Kulturtod.

Das Bewußtsein von der Unzulänglichkeit einer solchen Gesell-

1

Vgl. den Artikel: Platon, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften,

Bd 6, 4. Aufl., Jena 1925, S. 877 ff.

2

Vgl. den Artikel: Aristoteles, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften,

Bd 1, 4. Aufl., Jena 1922, S. 920 ff.

3

Vgl. den Artikel: Thomistische Gesellschafts- und Wirtschaftslehre, in: Hand-

wörterbuch der Staatswissenschaften, Bd 8, 4. Aufl., Jena 1928, S. 244 ff.

4

Siehe oben S. 70.

10 Kleine Schriften