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Das „Lebewesen“ als s o l c h e s ist nicht zu finden, aber wohl einzelne
Lebewesen. Ebenso ist die Gattung als s o l c h e nicht zu finden, zum Beispiel
nicht die „Pferdheit“, „Katzenheit“, wohl aber das Pferd Grane, der Kater Murr.
Ferner: der menschliche Organismus als solcher ist nicht zu finden, dagegen
finden wir bestimmte Menschen — doch auch deren Organismus „an sich“, „als
solchen“, können wir nicht greifen, sondern nur bestimmte Organe wie Herz,
Lunge, Leber; selbst diese bestimmten Organe könnten dann noch als bloße
„Abstraktionen“ aufgefaßt werden, wenn darauf hingewiesen würde, daß wir
mit dem Mikroskop nur die Zellen konkret sehen, also nicht Blut als solches,
sondern nur Blutkörperchen, nicht die Lunge als solche, sondern nur die
Lungenzellen und so fort.
„Die menschliche Gesellschaft“ als solche ist nicht zu finden. Wir finden stets
nur einzelne Menschen, zum Beispiel in einem Unterhaltungsraum mehrere Men-
schen beisammen; wir finden einzelne Menschen in tausenden Arten von Gesel-
lung und Vergesellschaftung, aber die „menschliche Gesellschaft“ als solche finden
wir nicht. Wir finden darum auch nicht den „Staat“ als solchen, aber wohl einzelne
Glieder davon, zum Beispiel den Kaiser Karl den Großen, den Kanzler Bismarck,
einen bestimmten Staatsbürger Fuchs; in einem „Parlament“ finden wir einzelne
Menschen Reden haltend, in einem „Kriege“ einzelne Menschen kämpfend und so
fort. Ebenso finden wir das „Recht“ als solches nicht, aber den einzelnen Rechtssatz
und den einzelnen Richter; das Heer als solches nicht, aber den Feldherrn Moltke,
die Helden Schill und Andreas Hofer; die „Volkswirtschaft“ als solche nicht, aber
den werktätigen Wirtschafter und Erfinder Krupp; die gesellschaftliche Erschei-
nung „Kunst“ als solche nicht, aber den Künstler Goethe und das Drama „Faust“;
die „Wissenschaft“ als solche nicht, aber den Gelehrten Kepler und die Lehr-
sätze Keplers.
Und endlich finden wir auch, um Beispiele geistiger Ganzheiten heranzuziehen,
den Begriff als solchen nicht, aber die Merkmale zum Beispiel des bestimmten Be-
griffs der Sonne; das „Urteil“ als solches nicht; den Schluß als solchen nicht, aber
bestimmte Urteile, Schlüsse und deren Teile. Und so geht es weiter durch alle
denkbaren Ganzheiten hindurch!
Diese Beispiele leuchten wohl ein. Daß das lautere Ganze, das
„Ganze selbst“, „an sich“, „als solches“ nicht erscheinen könne, be-
greift man in seiner inneren Notwendigkeit, wenn man bedenkt,
daß es dann als ein e i g e n e s E t w a s erscheinen müßte, also
n e b e n den Gliedern! Einen eigenen „Staat“, so zeigte / sich, kann
es ja neben den Staatsgliedern, einen eigenen Begriff neben den
Merkmalen und so fort nicht geben! Und doch ist die mangelnde
Einsicht in diese Grundtatsache schuld an jener Auffassung, die wir
atomistisch oder individualistisch nennen, und die zum Beispiel
leugnet, daß es einen Staat, eine Volkswirtschaft usw. im strengen
Sinn überhaupt gebe, weil sie stets darauf hinweist: es gebe nur
einzelne Staatsbürger, einzelne Wirtschafter
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Worüber dann unten mehr zu sagen sein wird, siehe § 3, S. 64 ff.