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Zweitens ist wichtig, und es folgt aus dem ersten, daß man sich
das Verhältnis von Ganzem und Glied niemals ursächlich, körperlich
vorzustellen habe. L o g i s c h e s S e t z e n i s t v i e l m e h r g e -
g e n g e n e t i s c h e s E r z e u g e n z u s t e l l e n . Das Ganze
„erzeugt“ niemals ursächlich seine Teile, denn das Verhältnis natu-
ralistischer Ursächlichkeit findet zwischen Ganzem und Glied über-
haupt nicht statt, sondern nur das der Gliedlichkeit, das heißt
der sinnvollen / Bezogenheit, Ausgegliedertheit (Begriffe, über die
wir später noch ausführlich sprechen werden). Der Gattungsbegriff
erzeugt daher nicht den Artbegriff; die Eichenheit erzeugt nicht
die Eiche, der Staat erzeugt nicht seine Bürger; die Volkswirtschaft
erzeugt nicht den Wirtschafter; die Fabrik erzeugt nicht die Ar-
beiter; oder: der Staat erzeugt nicht das Recht; das Recht er-
zeugt nicht die Wirtschaft; und ebenso: die Seele erzeugt nicht den
Leib; das Haus erzeugt nicht die Zimmer noch die Ziegelsteine;
das Gedicht erzeugt nicht die Laute oder Buchstaben. Mit einem
Worte: das Ganze darf den Gliedern gegenüber nicht als ein eigenes
Etwas (ein „an sich“, „als solches“), nicht als stoffliches Kraft-
zentrum gedacht werden, welches etwas „bewirkt“, „erzeugt“, phy-
sisch „hervorbringt“, denn dann würde es ja selber v e r d i n g -
l i c h t werden, dann wäre es ja nicht das Ganze, das in allen Glie-
dern sich darstellt und ganz in allen Gliedern erscheint; dann
würde es ja „selber“ erscheinen — dann müßten wir ja gerade der
„Gesellschaft als solcher“, dem „Heer als solchem“, dem „Staat als
solchem“ usw. begegnen können, dann hätte ja das Ganze als solches
Dasein! Nein, der Satz „das Ganze ist vor dem Teil“ sagt nur, daß
das Ganze das l o g i s c h e Prius des Teiles sei; „Ganzheit“ ist
jenes Ursprüngliche, das in den Teilen sich ausdrückt, ausgliedert,
aber kein dinglich-selbständiger, noch physischer Kraftspeicher ist.
Zur weiteren Erläuterung noch folgende Beispiele:
Das N i b e l u n g e n l i e d , als Gedicht oder poetische Ganzheit betrachtet,
hat zu Gliedern, formal gesehen, die Gesänge und Strophen, diese haben zu
Gliedern Sätze, diese wieder Worte, welche schließlich aus Silben und Buchstaben
bestehen. Doch ist es klar, das Nibelungenlied e r z e u g t nicht, bringt nicht ur-
sächlich hervor Laute, Buchstaben, Silben oder Worte; sondern es nimmt Form
an, g l i e d e r t s i c h a u s , indem seine ideellen Gestalten (seine eigensten
Glieder), nämlich eines Siegfried, Hagen, Gunther, Giselher in Gesängen und
Strophen, i n Anschauungen und Begriffen, i n Sätzen und Worten m i t t e l s
der Silben und Buch- / staben zur Darstellung, zur Erscheinung oder Ausgliede-
rung kommen. H i e r z e i g t e s s i c h d e u t l i c h , i n w e l c h e m S i n n