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gliedernden aber nicht erscheinenden Ganzen an sich oder V o r s e i n s wird
später zu sprechen sein
1
.
Wenn die lautere Ganzheit als solche kein Dasein, keine eigene
hervorgebrachte Wirklichkeit hat, so entsteht nun die Frage: Ist sie
darum nicht? Die Antwort lautet: Im Gegenteil; sie zeigt sich als
das Ursprüngliche, das logisch Erste der ausgeborenen Glieder, nach
dem Satze: Das Ganze ist vor den Gliedern.
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§ 4
Lehrsatz 3 : Das Ganze ist vor den Gliedern
I.
Allgemeine Erläuterung
Das Ganze ist es, das sich ausgliedert, daher ist es (logisch) vor den
Gliedern.
Dieser Satz ist Gemeingut der urältesten Philosophie. Wir finden
ihn in den indischen Upanischaden, wir finden ihn bei Laotse und
Kungfutse, wir finden ihn bei Pythagoras, bei Platon und Aristote-
les, bei ihren Schulen und Nachfolgern, unter diesen insbesondere
bei Platon und den Scholastikern. Unsere moderne Wissenschaft hat
ihn vergessen, sowohl als ontologische wie als methodologische
Wahrheit! In griechischer Formulierung heißt er:
„
τό
γάρ δλον πρό- τερον
άναγκαΐον
εϊναο
τοΰ
μέρους"
2
;
in lateinischer: „totum ante
partem“; das „Frühere“, das logische Vorhersein heißt bei Aristote-
les „
τό
τί ην εϊναι
“,
das „Sein das war“, im Sinne von Vor-dem. In-
folge der Fremdheit des Gegenstandes für das heutige Denken ist
eine gründliche Erörterung nötig.
Vorerst: Die Bestimmung „vor“ oder „früher“ als der Teil darf
man nicht zeitlich auffassen und nicht genetisch, sondern logisch,
begrifflich, also im Sinne von „dem Wesen nach“, der „Natur der
Sache nach“ (als
„ngoxegov xfj (pvoei“,
natura, nicht tempore), logi-
scherweise. Es ist das logisch Erste, das logische Prius, um das es
sich handelt, nicht das zeitlich noch genetisch Erste, obzwar dieses
oft dem logischen entsprechen wird.
5*
1
Vgl. unten S. 83 f. und § 22, S. 214 ff.
2
Aristoteles in seinem Werk: Politik I, 1 §
11b