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auch der allgemeine Begriff nicht derjenige, der zahlenmäßig leerer
an Merkmalen ist und in welchem nur die den verschiedenen beson-
deren Begriffen statistisch gemeinsamen Merkmale enthalten wären,
in dem also das Besondere schlechthin wegfiele. Diese empiristische
und eigentlich bloß statistische Wesensbestimmung des / Allge-
meinbegriffes steht mit der Weise des Stufenbaues in Widerspruch.
Nach ihr ist der Allgemeinbegriff der Begriff des h ö h e r e n Gan-
zen gegenüber dem niederen oder dem Gliede und hat daher als
Befassender gegenüber dem gliedlich Befaßten mehr Merkmale,
nicht weniger. Diese Sachlage hat vom Standpunkt der aristote-
lischen Logik aus bereits treffend Willmann gekennzeichnet.
Er sagt, Kant habe hier den Sprachgebrauch verwirrt. Kant verstehe Abstra-
hieren in dem Sinne von: Absehen, Wegsehen von dem Besonderen, worin die
Nebenvorstellung liegt, daß die Abstraktion den I n h a l t des Begriffes ver-
ringere, und daß, je abstrakter ein Begriff ist, er um so leerer werde. „Diese
Vorstellung... ist nachdrücklich abzuweisen. Beim abstrakten Begriff ist nicht
von Merkmalen abgesehen, sondern sie sind nur unbestimmt gesetzt. Die Ab-
straktion hält die S t r u k t u r eines Kenntnisinhaltes fest und der abstrakte
Begriff ist darüber hingebreitet, waltend und herrschend. Nur sind die Merkmale,
die im niederen Begriff a k t u e l l gesetzt sind, im höheren Begriff p o t e n t i e l l
gesetzt. Wenn man von dem Begriff des Vogels zu dem des Tieres aufsteigt,
so wird nicht von den Merkmalen: Eierlegen und Fliegen a b gesehen, sondern es
wird in sie h i n e i n gesehen und ihr Wesentliches: Fortpflanzung und Fort-
bewegung, aus ihnen herausgelesen, sie werden a u f g e h o b e n , aber nicht in
dem Sinne von Beseitigen, sondern in dem von A u f b e w a h r e n . . . Es ist
die Probe der Denkkraft, dem abstrakten Begriff seine waltende Macht zu be-
wahren, und die darin liegende Aufgabe fordert die Einsicht, daß der Begriff
Wesen und Natur der Sache ausdrückt.“
1
Dieser treffenden Darlegung wäre vom Standpunkt der Kate-
gorie des Stufenbaues her noch hinzuzufügen, daß auch das Allge-
meine individualisiert ist — aber nur auf seiner Ganzheitsstufe.
Die absolute Geschichtlichkeit alles Daseins, die sich uns ergab
2
,
läßt es nicht zu, daß es unindividuelles Allgemeines gäbe. Jede
Ganzheit ist ja selbst wieder Glied und schon darum selber „be-
sondert“. Das sogenannte „Allgemeine“ ist daher nichts anderes als
die jeweils höhere Ganzheitsstufe.
/
Wenn man aber Besonderheit, Einzigartigkeit ins Auge faßt, so
muß man erkennen, daß sie in gewissem Sinne ein Nicht-Sein ist.
1
Otto Willmann: Hörsaal und Schulstube, 2
.
Aufl., Freiburg i. Br. 1912,
S. 211 f.
2
Siehe oben S. 147, 183 und öfter.