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griff der „Erscheinung“, der schließlich doch immer auf eine solipsi-
stische Wurzel führt, auch gefaßt werden möge); sondern es bedeu-
tet das reale, selbständige, weil absolut gliedhafte Vorhandensein
beider! Jedes Glied ist sowohl etwas anderes als das Ganze, denn
„das Ganze geht in den Gliedern nicht unter“; wie auch etwas an-
deres als die anderen Glieder, denn jedes Glied hat grundsätzlich
sein Eigenleben und ist individuell.
Mit dem Merkmal des Eigenlebens ist ferner auch die Spontanei-
tät als Wesensbestandteil jeder Erkenntnis gewahrt, die von Kant
als „Apperzeption“, von Fichte als „Selbstsetzung“ bestimmt wurde.
Das Nicht-ohne-einander-sein-können von Subjekt und Objekt
hat die bedeutsame Folge, daß der Gegenstand deswegen kein er-
träumter und unwirklicher sei, weil in der Gezweiung die reale
Wirklichkeit beider, des Erkenners und des Erkannten, gewährlei-
stet ist. Um nun an diesem wichtigen Punkt nicht zu rasch vor-
überzugehen, sei es erlaubt, im besonderen noch auf die so oft
aufgeworfene Frage einzugehen: Ist der Stein noch da, wenn der ihn
Erkennende fortgeht? Darauf ist zu antworten: ja oder nein. Er ist
nach dem Verschwinden des Erkenners in jener b e s o n d e r e n
Wesenheit oder Realität nicht mehr da, die er gerade in der Ge-
zweiung mit dem Erkenner fand. Diesen Fall zeigt ja jede Ge-
zweiung. Wie der Schüler nach Austritt aus der Schule oder nach
dem Tode des Lehrers in das Verhältnis „Lehrer — Schüler“ nicht
mehr eintritt, also die Realität d i e s e s Gliedseins verliert; wie
jeder Mensch durch Erlöschen / der Gezweiung jene geistige Reali-
tät alsbald verliert, die gerade in der jeweiligen Gezweiung aktuiert
war, zum Beispiel der Freund die Freundschaftsgefühle, wenn das
Freundestum entschwand, so auch in der Erkenntnisgezweiung zwi-
schen Erkanntem und Erkenner. Aber wie der Mensch in allen den
angeführten Fällen darum doch noch Mensch bleibt, weil er nämlich
in tausend anderen Gezweiungen seine Wirklichkeit beibehält und
stets neu erschafft
1
; so geschieht es auch dem Erkenntnis-Gegen-
stand: Er existiert nach dem Fortgehen des Erkenners, aber nur
noch außerhalb der betreffenden Erkenntnis-Gezweiung, nämlich in
anderen Gezweiungen — weil die Welt von allen anderen Men-
schen, vom ganzen Geist der Menschen noch gedacht wird.
1
Siehe „Verbandswechsel“, oben S. 257 f.