V i e r t e r A b s c h n i t t
Bemerkungen über den Unterschied von Ganzheit, Form,
Substanz und „Teilnahme“
I. Die Form
Die Begriffe Form und Ganzheit sind eng verwandt, aber doch
nicht dasselbe. Der aristotelische und scholastische Begriff der Form
(είδος, μοριμή)
ist vor allem dadurch bestimmt, daß er einem ge-
nauen Gegenteil, dem der Materie, dem Stoff
(ϋλη),
gegenübertritt,
der an sich ungeformt und bestimmungslos sei und nur die aufneh-
mende Potenz
(δϋναμις)
besitze
1
. Dagegen hat der Begriff der
Ganzheit kein solches Gegenteil. Denn das Glied ist nicht der Ge-
gensatz zum Ganzen, sondern dessen bestimmte Darstellung, dessen
sich in Ebenbildlichkeit vermannigfaltigende Besonderung und Ver-
wirklichung. Darum ist das Glied auch nicht die Materie, der Stoff
des Ganzen, das rein Potentielle, Aufnehmende, sondern vielmehr
der zur sich besondernden Selbstgestaltung ausgehende actus der
Ganzheit. Aus eben diesem Grunde ist auch die Ganzheit nicht in
dem Sinne „Form“, daß sie (wie Aristoteles lehrt) in der Wider-
spenstigkeit der Materie ihren Individualisierungsgrund, das prin-
cipium individuationis, finden müßte; sie ist schon ihrem / Wesen
nach, wie sich zeigte, auf jeder Stufe individualisierte Selbstdarstel-
lung und bedarf keines außer ihr liegenden Individualisierungsgrun-
des!
Mit dem Moment der besondernden ebenbildlichen Selbstdarstel-
lung ist ferner gegeben, daß die Ganzheit dem Gliede gegenüber
auch nicht das
το τϊ ήν είναι,
das Vor-dem (wie es Willmann so
trefflich übersetzt) ist, der reine
λόγος,
die rein begriffliche Wesen-
heit; denn das unausgegliederte Ganze, das Fünklein, ist nicht im
1
Siehe oben S. 331 und öfter.