354
[391/392]
Damit erachten wir die Frage des Verhältnisses des Ganzheits-
begriffes zu dem Begriff der Form oder des
είδος
noch nicht er-
schöpft. Die obigen Hinweise wollen nur die wesentlichsten Unter-
schiede hervorheben, während das Gemeinsame und Verwandte
beider Begriffe, das übrigens von selbst einleuchtet, unerörtert
blieb.
II.
Der Substanzbegriff
1
Ohne uns auf den langwierigen Weg einer Erörterung des aristo-
telischen Substanzbegriffes mit seinen mehrfachen Bedeutungen be-
geben zu können
2
, fassen wir hier „Substanz“ in jener Grundbe-
deutung, in der sie das Einzelding zu jener bestimmten Wesenheit
(ούαία,,
essentia) macht, der jeweils alle / Prädikate (Akzidentien)
beigelegt werden. Verneinend wäre dieser Begriff dahin zu begrün-
den, daß es ein Reales in akzidentiellem Sinne, also losgelöst von
Substanz, nicht geben kann. Der Begriff der Substanz wird dann
herkömmlich von den drei Merkmalen bestimmt:
(1)
Träger oder Subjekt der Akzidentien als seiner Inhärentien
zu sein;
(2)
das im Wechsel der Akzidentien (verhältnismäßig) Beständige
und Verharrende und
(3)
dasjenige, das eines andern Trägers nicht bedarf, um das in
sich selbst Bestand-Habende zu sein.
Der Begriff der Ganzheit kann diese Merkmale alle nur in einem
veränderten Sinne annehmen, ohne doch derjenigen Forderung, aus
der heraus die Denkaufgabe entsteht, deren Lösung immer wieder
nur der Substanzbegriff sein konnte, auszuweichen. Die schon er-
örterte Tatsache nämlich, daß es Qualitäten (Akzidentien) losgelöst
von „Wesenheit“ und von Einzeldingen, in denen sie (wie?, wo-
1
Vgl. auch oben S. 56 f. und 270 f.
2
Vgl. dazu die Erörterungen des Substanzbegriffes bei Eduard Zeller: Die
Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt, TI 2,
Abteilung 2: Aristoteles und die alten Peripatetiker, 4. Aufl., Leipzig 1921, S. 345 ff.
Friedrich Adolf Trendelenburg: Geschichte der Kategorienlehre, Berlin 1846, S. 34
und öfter (= Historische Beiträge zur Philosophie, Bd 1). Franz Brentano: Ari-
stoteles und seine Weltanschauung, Leipzig 1911, S. 44, 33 ff. und 38. Wilhelm
Windelband: Geschichte der abendländischen Philosophie im Altertum, bearbeitet
von Albert Goedeckemeyer, 4. Aufl., München 1923, S. 205 f. (= Handbuch der
Altertumswissenschaft, Bd 5, Abt. 1, TI 1).