52
[49/50]
Es gibt kein totes Sein. Man denke, daran erinnern wir nochmals,
um diesen Gedanken ganz in sich aufzunehmen, zuerst an das Sein
in Geist und Leben. In Geist und Leben liegt das Schöpferische des
Seins klar am Tage. Wer dies Schöpferische einmal begriffen hat,
wird es dann im Anorganischen, gleichsam als in einem Grenzfalle
des Seins, leicht wiederfinden. Es ist nicht, so sagten wir schon oben
1
,
ein Stoff, der schlecht- / hin da ist und nicht mehr verschwinden
kann, woraus die Körperwelt bestünde, sondern es sind die unauf-
hörlichen Neusetzungen, durch die das Stoffliche allein besteht. Was
will dagegen die annähernde Beständigkeit der Größenverhältnisse,
wie die mathematische Physik sie nachweist, sagen? Sie kann nur die
verhältnismäßig große Beständigkeit der Neusetzung beweisen,
nicht das Tote.
Es ist ein uraltes Weisheitsgut der Menschheit, daß die Welt an
Gott, der sie unaufhörlich neu schafft, hängt, daß sie nur durch das
unaufhörliche Mitwirken Gottes an der Weltarbeit besteht. Diese
Erkenntnis wäre auch damit nicht widerlegt, daß die stoffliche
Welt nach mathematisch-physikalischem Verfahren erkannt werden
kann, denn diese Möglichkeit beweist nichts anderes als sehr große
Beständigkeit der schöpferischen Wirkung. Würde Gott nur einen
Augenblick ermüden — die Welt müßte in das Nichts zurücksinken.
Diese Wahrheit darf aber nicht behandelt werden gleich einer
tröstlichen religiösen Einsicht, die sich der Mensch in einsamen
Stunden eingesteht; sie darf auch nicht nur in irgendeinem Ab-
schnitte der Metaphysik Vorkommen. Sie muß den Seinsbegriff ganz
und gar durchdringen und alles, was aus ihm folgt. Geschieht dies,
dann erscheint das Sein als Geschaffenwerden und Schaffen in ewig
frischem Grünen und Blühen.
II. Das Wesen des Schaffens
A.
A l l g e m e i n e W e s e n s e r k l ä r u n g
Ist das Wesen des Seins durch „Schaffen“ aus „Geschaffenwerden“
bestimmt, dann kann der Seinsbegriff nicht ohne tieferes Eindrin-
gen in das Wesen des Schaffens begründet werden.
1
Siehe oben S. 48 f.