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Außer dieser schon erwähnten falschen Aussagelehre kommt aber
für den Satz: „Das Sein hat keine Arten“ noch die falsche Be-
stimmung des A l l g e m e i n b e g r i f f e s in Frage. Ist das Sein,
folgert man, so unbestimmbar, daß es durch kein Merkmal bezeich-
net werden kann, so gibt es auch keinen allgemeineren Begriff als
„ist“. Alles, was bestimmt werden soll, so sagt man richtig im Sinne
der platonisch-aristotelischen Logik, muß durch Angabe seines höhe-
ren Gattungsbegriffes (des genus proximum) bestimmt werden. Da
aber alles, was ist, unter den Begriff des Seins fällt, so gibt es keinen
allgemeineren Begriff als „ist“ selbst. „Sein“ kann daher durch kei-
nen Gattungs- oder Artbegriff / bestimmt oder untergeteilt wer-
den: Das Sein hat keine Arten. Was keine Arten hat, ist auch nicht
eigentlich Gattung, daher wird „Sein“ in der Scholastik folgerichtig
als „transzendenter“ Begriff bezeichnet. Damit will gesagt sein, daß
„Sein“ noch über den Gattungen steht, was an sich zweifellos
richtig ist.
Die Bestimmung des Seins als artlosen, merkmallosen Begriff
erweist sich aber als unhaltbar.
Das zeigt sich zuerst, wenn man den Stufenbau der Begriffe näher
verfolgt. Bei der „Gattung“ muß man notwendig an den Stufenbau
der Ganzheiten, das heißt der Wesen, zuletzt an den gesamten
Gliederbau der Welt denken. Von dem Begriffe „Eiche“ muß man
zu dem Begriffe „Laubbaum“, von diesem zu „Baum“, von diesem
zu „Pflanze“, von diesem zu „Lebewesen“ aufsteigen und so immer
höher hinauf — a b e r v o n h i e r a u s n i c h t w e i t e r
z u m „ L e b e n d i g e s s e i n ü b e r h a u p t “ ( L e b e n ) , u n d
n o c h w e i t e r z u m „ S e i n ü b e r h a u p t“, welches dann
100 ff. — Vgl. Aristoteles: Metaphysik, III; Analytica posteriorum, II, 1, 89 b, 33;
2, 90 a, 2 ff.
Thomas von Aquino: ens non potest esse genus, das Seiende kann keine (höchste)
Gattung sein (Summa contra gentiles, I, 25). — Compendium theologica, c. XIV.
In gleichem Sinne die Neuscholastik. Vgl. z. B. Alphons Lehmen: Lehrbuch der
Philosophie auf aristotelisch-scholastischer Grundlage, Bd 1, 5. Aufl., Freiburg
i. Br. 1923, S. 310 ff. und öfter.
Für K a n t u n d F i c h t e gilt: die a p r i o r i s c h e K a t e g o r i e d e r
R e a l i t ä t h a t k e i n e A r t e n . — F ü r S c h e l l i n g , der das Sein in die
Kopula des Urteils setzt (vgl. oben S. 76 f.), und für Hegel, der es als unterschieds-
los setzt (vgl. Enzyklopädie, § 84), gilt obiger Satz ebenfalls. — Vgl. auch Imma-
nuel Hermann Fichte: Anthropologie, 3. Aufl., Leipzig 1876, §§ 84 ff.;
Vermischte Schriften zur Philosophie, Theologie und Ethik, Bd 1, Leipzig 1869,
S. 292 ff.