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Hier zeigt sich abermals der von uns wiederholt bekämpfte Irr-
tum, den Begriff des Seins nach der grammatischen Form der Kopula
„ist“ zu denken (die Rose „ist“ rot und „ist“ hochgewachsen), wel-
che Kopula nach jener Ansicht die Aussagen zwar verbindet, aber
(in der grammatischen Form gesehen) nichts zu ihnen hinzufügt,
indem sie nämlich nur den Existenzbegriff, das leere Sein, aussagt.
— In rein formell-grammatischem Sinne kann man dem zustimmen
(obwohl auch da Vorbehalte nötig wären), und es kann dann hin-
gehen, daß das „Sein“ nur das „Prädikat aller Prädikate“, also leer
und unterschiedslos sei
1
. Im ontologischen Sinne kann dieses nie-
mals gelten! S e i n i s t k e i n P r ä d i k a t , s o n d e r n Q u e l l e
a l l e r P r ä d i k a t e . Es ist das die Prädikate Setzende, das Aus-
gliedernde.
Die grammatische Kopula „ist“ (das Prädikat „ist“) — die / Rose
i s t . . . — wird fälschlich so gedeutet, als wäre das Ding ein Ver-
sammlungsort von Eigenschaften, so daß zu den Eigenschaften der
Rose „rot“ und „hochgewachsen“ noch das Sein (ens, das existere)
hinzukäme, wie die Kuh in den Stall, oder „gesetzt“ würde, wie
Kant sagt
2
.
Das Sein setzt sich in „Eigenschaften“; es setzt sie durch „Schaf-
fen aus Geschaffenwerden“. Und es setzt diese Eigenschaften ferner
in einer Ganzheit, die nicht nur s y s t e m a t i s c h e n Aufbau hat
und dadurch unveränderlich stets dieselbe wäre, sondern die auch
z e i t l i c h e Umgliederung hat, die Veränderung zeigt. Wenn
Sein auf diese Weise die Quelle der Eigenschaften ist, dann kann es
niemals zu den Dingen hinzukommen.
Es ist wohl richtig, daß die Wesenheiten (Substanzen) zuerst nicht
waren, dann sind, dann wieder nicht sind. Aber dies bedeutet nicht,
daß das Sein zu der Wesenheit „hinzukomme“, sondern daß das
Sein, als die Quelle der Wesenheit mit ihren Eigenschaften, in der
Weise der Ganzheit ist: indem nämlich das ausgliedernde Gesamt-
1
Im Urteile: Die Rose „ist“, stellt das ist, vom Formell-Grammatischen
abgesehen, weder eine Aussage noch schlummernde Kopula für Aussagen vor,
sondern den Grund aller Eigenschaften (ihre Quelle, ihre Setzung), die im Sub-
jekt „Rose“ beschlossen sind, die Quelle des Subjekts „Rose“, bestehe sie actu in
welchem Seinsgrade oder Seinszusammenhange (Umgliederungszusammenhange)
immer.
2
Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der 1. und 2. Originalausgabe neu
herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig 1926, S. 627 (= Philosophische
Bibliothek, Bd 37 d).