106
[112/113/114]
1.
Sein ist die Quelle der Wesenheit, es kann daher nicht erst zur Wesenheit
hinzukommen. Wesenheiten, die als nicht wirkliche gedacht werden, sind keine.
Also muß die Verwirklichung zu ihrem Begriffe gehören.
2.
Dasein oder Verwirklichung ist aber ein Vorgang in der Zeit, daher kann
niemals die ganze Wesenheit zumal (zugleich) verwirklicht werden, es ist stets
nur ein Teil verwirklicht. Wer zum Beispiel die Geschichte der Menschheit be-
grifflich denkt, kann nicht verlangen, daß die Ereignisse / vor dem Auftreten
des Christentums nachher und die Ereignisse nachher vorher gekommen wären.
Und so mit allen Ganzheiten. Wer eine Ganzheit denkt, kann sie immer nur in
einem bestimmten Umgliederungsabschnitte verwirklicht denken. Aber es gehört
zum Wesen, daß es sich verwirklicht. Da die Verwirklichung in geordneter
Folge geschieht, können nicht alle Wesenheiten in ihrer Fülle und zumal ver-
wirklicht sein. Auch muß der Verwirklichung jene Schwankungsbreite (Variations-
breite) zugestanden werden, die im Begriffe selbst liegt.
3.
Richtig ist an der Aristotelischen Scheidung von Wesen und Dasein die
zugrunde liegende von Möglichkeit und Wirklichkeit. Aber die Unterscheidung
von Möglichkeit und Wirklichkeit ist nicht einerlei mit jener von Wesen und
Dasein. Ferner darf man sich nicht der ungenauen Redeweise bedienen: daß
„ d e r A k t z u r P o t e n z h i n z u k o m m e “ (die Wirklichkeit zur Mög-
lichkeit hinzukomme). Spricht man so, dann gelangt man zu dem Fehlschlusse,
daß auch zur Wesenheit die Wirklichkeit h i n z u komme. Der Möglichkeit
kommt die Wirklichkeit (der Potenz der Akt) nicht angeflogen, sondern zu jedem
Möglichen gehört begriffsgemäß seine Verwirklichung. Eine andere Möglichkeit
als eine sich verwirklichende (eine andere Potenz als eine sich aktuierende) gibt
es nicht. Erst was sich verwirklicht, war möglich; geschieht das nicht, so war es
ein leeres Hirngespinst.
4.
Der Unterschied, der zurückbleibt und an die Stelle des Hinzukommens
eines Seins zum Wesen tritt, ist: der Unterschied zwischen dem Vorsein und dem
Dasein. D i e s i s t a b e r d e r U n t e r s c h i e d v o n z w e i S e i n s a r -
t e n u n d n i c h t v o n S a c h g e h a l t u n d D a s e i n . Zum „Vorsein“
gehört, daß es mit dem zweiten Sein verbunden sei, daß es sich im Dasein aus-
gliedert. Denn das Ganze wird in den Gliedern geboren.
B. F o l g e r u n g a u f d e n o n t o l o g i s c h e n G o t t e s -
b e w e i s u n d a u f s e i n e E r w e i t e r u n g
Der Gedanke des ontologischen Gottesbeweises besteht nun darin,
aus dem Begriffe Gottes als des allervollkommensten Wesens auch
auf sein Dasein zu schließen. Denn dem vollkommensten Wesen
kann Dasein nicht abgehen
1
. Was beim ontologischen Gottesbeweis
Schwierigkeiten macht, ist die / falsche Annahme, der Begriff sei
etwas von der Wirklichkeit Loslösbares. Wir zeigten, in welchem
Sinne das nicht der Fall ist.
Uns steht dieser Gedanke schon grundsätzlich fest, nun ist er noch
1
Vgl. Näheres darüber unten S. 119 ff. und 156 ff.