Z w e i t e r A b s c h n i t t
Lehrbegriff der Zeit
I. Lehrgeschichtliche Vorbemerkungen
Raum und Zeit sind nicht als Gleiches zusammenzustellen, wie
dies seit der Kantischen Kategorienlehre zu geschehen pflegt. Kan-
tens tiefgründige Ansicht vom Wesen der stofflichen Welt, wie sie
im Dynamismus
1
zur Geltung kam, vermochte infolge des subjek-
tivistischen Standpunktes seiner Kategorienlehre nicht zu frucht-
barer Auswirkung zu gelangen. Denn Kant mußte nach der ganzen
Natur seiner Kategorienlehre beides, Zeit und Raum, als „An-
schauungsformen“ bestimmen und daher allzusehr gleichsetzen. Die
Zeit war ihm die Anschauungsform des inneren Sinnes, der Raum
jene des äußeren Sinnes
2
. — Bei dieser Bestimmung kommt aber
der grundlegende Unterschied nicht zur Geltung, daß die Zeit der
geistigen und der stofflichen Seinsordnung angehört, der Raum aber
nur der stofflichen Seinsordnung. Die Zeit kann ferner nach unse-
rer Ansicht nicht als subjektive Erscheinungsform betrachtet wer-
den; ebensowenig allerdings als das Gegenteil, nämlich als ein
Ding „an sich“, weil nämlich jede Zeitlichkeit eine Darstellungs-
weise, Äußerung einer empirischen Wesenheit, eines Dinges ist. —
Diese Irrtümer Kantens, und namentlich auch die einfache Neben-
ordnung von Zeit und Raum statt einer der Artverschiedenheit
entsprechenden Vorordnung der Zeit vor dem Raume, hingen mit
dem Begriffe eines subjektiven / Apriori und dessen Gegensatze,
dem „An sich“, das gleichsam hinter den Dingen stünde, zusam-
men. Mit diesen Begriffen muß aber jede echte ontologische Ansicht
1
Siehe oben S. 310 ff.
2
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der 1. und 2. Original-
ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig 1926, S. 33 ff. (= Phi-
losophische Bibliothek, Bd 37 d).