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brechen. So Gewaltiges diese Begriffe in der damaligen philoso-
phiegeschichtlichen Lage leisteten, in der sie fähig waren, den Empi-
rismus und Relativismus jener Zeit aufs Haupt zu schlagen, ihn
wenigstens innerhalb jener subjektivistischen Betrachtungsweise
zu besiegen und in der Folge einen Strom echten idealistischen Den-
kens zu entfesseln, so sind sie doch für jede ontologische Philosophie
unbrauchbar, die mit Empirismus, Relativismus, Positivismus, Sen-
sualismus und was dergleichen mehr ist, nichts mehr zu tun hat.
Aus der Reihe der ontologischen Lehransichten ist die des Ari-
stoteles hervorzuheben. Er bestimmte im vierten Buche der Physik
die Zeit als „das Maß und die Zahl der Bewegung (
άριθμόςχινήσεως
)
in Beziehung auf das Früher und Später“ oder als das Gezählte an
der Bewegung
1
. Aristoteles gab damit dem Raume den Vorrang vor
der Zeit, er „fundierte“, wie man heute zu sagen pflegt, die Zeit im
Raume. Diese Ansicht werden wir später des Näheren als Irrtum
erweisen. Doch sei vorwegnehmend schon hier bemerkt, daß die
Erklärung der Zeit aus der Bewegung im Raume nur physikalisch
gelten kann (wie sie vielleicht sogar von Aristoteles allein gemeint
war), dagegen als Wesenserklärung unannehmbar ist. Denn „Be-
wegung“ enthält ja schon den Begriff des zeitlichen Ablaufes in sich!
Sie erklärt nicht die Zeit, sondern die Zeit erklärt sie. Wüßte der
erkennende Geist nicht von sich aus (durch seine eigenen inneren
Umgliederungshandlungen), was „Zeit“ ist, so könnte er auch die
Bewegung im Raume nicht als zeitliche auffassen, noch (als zeitliche)
messen oder zählen. Wenn hier ein Vergleich möglich wäre, so
könnte man sagen, daß der er- / kennende Geist o h n e Zeit-
bewußtsein die räumliche Bewegung nur zeitlos-qualitativ, etwa als
eine Art Linie oder gar nur als kaleidoskopartiges Nebeneinander
von Qualitäten der Fläche erfassen könnte. — Der Begriff der „Be-
wegung“ setzt also die Zeit voraus, Aristoteles’ Bestimmung be-
ruht daher (wenn sie nicht bloß physikalisch gemeint war) auf
einem Zirkelschluß.
Eine merkwürdige Erscheinung in der Geschichte des Zeitbegrif-
fes ist, daß die meisten der Aristotelischen Lehre vom Vorrange des
1
Vgl. Aristoteles: Acht Bücher Physik, griechisch und deutsch von Karl von
Prantl, Leipzig 1854, IV, 11, 219 b, 1; vgl. IV, 10—14.