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die Verräumlichung des Vorräumlichen selbst die Urtatsache, der Grundvorgang,
sie geschieht darum unmöglich durch ein anderes, das es von sich schleuderte.
Damit können nun alle Sondervorgänge dieser aus Vorsinnlichem hervorgehen-
den Welt, insbesondere die Bewegung, erst a b g e l e i t e t e r Weise zur Er-
scheinung kommen. (Blitze schleudern wäre ja auch eine Bewegung.)
Bei unserer Auffassung ergibt sich weiter: Das V o r s t o f f -
l i c h e d e s S t o f f e s f l i e ß t i n s e i n e m S t o f f e
n i c h t a u s , es bleibt seiner Schöpfung Herr und Meister, wie
wir es bei allem Schaffen kennenlernten. Denn jedes Vorsinnliche
verräumlicht sich nur so weit und qualifiziert dieses Räumlich-Stoff-
liche nur so weit, als es den so gebildeten Bereich durchherrscht oder,
wie wir sonst sagten: befaßt, in sich behält, rückverbindet. Die in-
telligible Bewegung der Verräumlichung muß, so sagten wir oben
1
,
auch eine solche zurück zur Mitte in sich schließen. Nach dem Bilde
der Blitze dagegen müßte eine Art von Ausfließen in den Raum ge-
dacht werden.
Von hier aus haben wir zum Begriffe des Gestaltlosen und Chao-
tischen Stellung zu nehmen. Mit dem Begriffe des „Durchherr-
schens“ oder „Befassens“ ergab sich uns, das bleibt entscheidend, in
der Verräumlichung nicht nur eine hinausstrebende, sondern auch
eine zurückstrebende Aktion, eine in sich gehende Erregung. Erst
dadurch, daß beides vorhanden ist, das Äußere und das Innere, gibt
es ein Halt, eine Grenze in der jeweiligen Verräumlichungsaktion.
So entsteht, wie wir / schon oben erkannten, die räumliche Gestalt.
Der Stoff ist seinem Entstehen und Wesen nach nicht formlos, da
er stets als Verräumlichung beschaffener und begrenzter und das
heißt auf sich selbst rückbezüglicher Äußerungen (Erregungen) des
Vorstofflichen entsteht! Es ist ein G r u n d i r r t u m , d e n
S t o f f v o n H a u s a u s f o r m l o s z u d e n k e n u n d
e r s t n a c h t r ä g l i c h g e s t a l t e n d e , b e g r e n z e n d e
K r ä f t e h i n z u z u f ü g e n . Auch solche nachträglich wir-
kende Einflüsse gibt es natürlich, aber nie auf ein an sich Form-
loses, stets auf ein schon Geformtes. Platonisch gesprochen: es gibt
kein
άπειρον
vor dem
πέρας
2
,
kein Chaos vor dem Kosmos
3
;
1
Siehe oben S. 326 f.
2
Platon: Philebos, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, 2., verbesserte Aufl.,
Leipzig 1922 (= Philosophische Bibliothek, Bd 145).
3
Platon: Timaios, übersetzt von Otto Apelt, Leipzig 1919 (= Philosophische
Bibliothek, Bd 179).