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her die Ideenlehre je irgendwo gefunden und begründet worden
wäre! Sieht man sich die Schriften, in denen die Ideenlehre Platons
entwickelt wird — „Gastmahl“, „Phaidon“, „Staat“, „Phaidros“,
„Sophistes“, ebenso den frühen „Menon“ und all die andern —,
daraufhin an, so zeigt sich, daß das Sein der Ideen überall voraus-
gesetzt und die Begriffsbildung erst h i n t e r d r e i n daraus er-
klärt wird, nicht aber daß die Idee von der Begriffstheorie her be-
gründet würde. Ein solches Beginnen lag auch jener Zeit, die das
Übersinnliche lebendig dachte, gänzlich ferne.
Die W u r z e l d e r I d e e n l e h r e i s t e i n e r e l i -
g i ö s e . Der Sinn der Idee ist darum ursprünglich ganz und gar
ontologisch, nicht erkenntnistheoretisch. Dies werden wir nun zu
beweisen haben.
/
B.
P l a t o n h a t d i e I d e e n l e h r e n i c h t e r f u n d e n .
S i e l a g i m r e l i g i ö s e n u n d i m p h i l o s o p h i s c h e n
D e n k e n b e r e i t s v o r
1
1 . D i e I d e e n v o r P l a t o n
Um den richtigen Zugang zur Ideenlehre der Alten und insbeson-
dere auch zur Platonischen zu erlangen, muß man sich klarmachen,
daß jede religiöse Auffassung des Seins dahin strebt, die sinnliche
Wirklichkeit aus einer übersinnlichen Wesenheit, die Welt aus
einer Oberwelt zu begründen. Diese Überwelt ist aber nichts bloß
Abstrakt-Formelles, sondern selber schon etwas Gestaltetes — die
Götterwelt. Was gestalten und schaffen soll, muß schon in sich selbst
gestaltet sein. — Bedenkt man dies, dann erkennt man: daß der
P o l y t h e i s m u s d i e V o r s t e l l u n g d e r l e b e n d i -
g e n I d e e ü b e r a l l n o t w e n d i g s c h o n i n s i c h
s c h l i e ß t . Nach polytheistischer Vorstellung haben alle Wesen
ihren Führer, alle Bäume ihre Nymphen, alle Wiesen, Wälder, Berge
und Flüsse ihre Elfen, Naturgeister, Berggeister, Stromgeister, und
die große Welt hat die großen Götter, das Weltganze hat den In-
begriff aller Götter, den Himmelvater, Allvater, zum Schöpfer und
Führer.